Flucht aus der Ukraine: Die Puppe aus Charkiw

Die Puppe aus Charkiw – Seite 1

Anfang
2022 lief für die ukrainische Künstlerin Olena Muzyria alles gut. Sie war 35
Jahre alt, hatte sich an der Staatlichen Akademie für Design und Kunst in
Charkiw auf Staffeleimalerei spezialisiert, und verdiente außerdem ordentlich mit
Betonkunstwerken, wie man sie in Parks, Hotels und Restaurants findet. Vor
Kurzem hatte ihre Firma Arbeiten im Zoo von Charkiw beendet. Sie hatte ihre
Traumwohnung in einer wunderschönen alten Villa im historischen Viertel von Charkiw
gekauft und gerade erst die Wohnung darüber mieten können, ein
lichtdurchflutetes Atelier, in dem sie malen wollte. Zudem hatte sie nach einem
Dutzend Jahren voller Versuche und Fehlschläge ihr Herzensprojekt fast
vollendet – eine altmodische Puppe wie aus Porzellan, mit blasser Haut, die fast
lebendig wirkte, und beweglichen Gliedern.

Die
zierliche Olena, der man nicht die Kraft ansieht, große Betonklötze über
Baustellen zu befördern, ist seit jeher von Puppen fasziniert. Im Kindergarten
verliebte sie sich in eine Puppe und redete eine Zeit lang nur noch mit ihr.
Mit zwölf oder dreizehn Jahren sah sie in einer Zeitschrift eine altmodische
Porzellanpuppe. In diesem Moment beschloss sie, irgendwann genau so eine Puppe
anzufertigen. Jahrzehnte später verwirklichte sie ihren Kindheitstraum.

„Es
hat viel Zeit beansprucht“, sagt Olena bei einem ersten Treffen in ihrer Wohnung in Berlin-Mitte. Mit ihren langen, dunklen, leicht
wilden Haaren und ihren strahlend blauen Augen wirkt sie selbst ein wenig wie eine zum
Leben erwachte Puppe. „An der Akademie wollte ich Malerei studieren, und
ich dachte, das Puppenmachen könnte ich mir mithilfe des Internets selbst
beibringen.“ Als sie mit der Arbeit begann, entdeckte sie, dass es weit und breit keinen Ofen gab, der heiß genug war, um Porzellan zu brennen. Deshalb
entschied sie sich für eine selbsthärtende Modelliermasse, die Porzellan ähnelt. „Ich hatte weder Dozenten noch Kurse. Alle Techniken habe ich im Internet
gefunden und ausprobiert. Ich habe immer wieder Fehler gemacht. Deshalb
entstand die Puppe über viele Jahre hinweg. Manchmal habe ich an ihr gearbeitet
und mochte das Ergebnis nicht. Dann habe ich alles weggeworfen und von vorne
angefangen.“

Im
Februar 2022 war die Puppe so weit, dass sie bei einer Ausstellung am 25. in
Charkiw gezeigt werden sollte. Ihre 27 Einzelteile waren durch bewegliche
Gelenke verbunden. Sie hatte blasse, strahlende Haut, braune Augen und lange,
weiche Haare, die Olenas Lieblingstante ihr nach einem Friseurbesuch geschenkt
hatte. Sie hatte sogar einen Namen: Galatea. Olena hatte ihn irgendwo gehört
und sofort gemocht; erst später schlug sie den Namen nach und las die
Geschichte von Pygmalion, der aus Elfenbein eine Statue schnitzte, die so
vollkommen war, dass er sich in sie verliebte. Er nannte sie Galatea, und als
sie von der Göttin Aphrodite zum Leben erweckt wurde, heiratete er sie.

Olena
hatte gerade Galateas Stiefelchen genäht, als am 24. Februar der Krieg
ausbrach. „Es war natürlich zutiefst erschütternd, und alle Pläne waren damit
hinfällig“, sagt Olena.

Die
ersten drei Wochen des Kriegs verbrachte Olena in einem Luftschutzraum. Dabei
wurde ihr sofort klar, dass man auf Gefahr nicht nur durch Kampf oder Flucht
reagieren kann. Eine dritte mögliche Reaktion besteht darin, einfach zu
erstarren. Als russische Bomben fielen, erkannte Olena, dass sie zu den
Menschen gehörte, die erstarren. „Das ist offenbar die häufigste Reaktion auf
Gefahr. Aber es ist auch die gefährlichste. Man ist wie benommen und unfähig zu
handeln.“ Ihr Freund Arthur kümmerte sich um sie wie um ein Kind, sagt sie.
Jeder Handschlag fiel ihr schwer. Trotzdem gelang es ihr, Galatea in Sicherheit
zu bringen. „Sie war das Erste, das ich in den Luftschutzraum gebracht habe“,
erzählt Olena mit einem leichten Lächeln. „Ich dachte: Wenn eine Bombe das
Haus trifft und ich sterbe, findet man in den Trümmern wenigstens meine Puppe.“

„Sie will immer wissen, wie es um Galatea steht“

„Es war schwer, alles zurückzulassen, mein Atelier, meine Wohnung. Aber Galatea war mir das Wichtigste.“

Am
10. März verließ sie die Stadt mit Arthur, der durch ein Schrapnell leicht
verwundet worden war. „Als der Krieg ausbrach, war mir klar, dass ich vieles
zurücklassen musste“, sagt Olena. „Aber die Puppe musste ich mitnehmen – sie
musste auch evakuiert werden.“ Und so stiegen die beiden in einen Zug, der sie
aus der Stadt herausbrachte – mit Galatea. „In Einzelteile zerlegt, lässt sie
sich besser transportieren. Trotzdem konnte ich nur wenig Kleidung und andere
Dinge einpacken, damit ich sie mitnehmen konnte. Es war schwer, alles zurückzulassen,
mein Atelier, meine Wohnung. Aber Galatea war mir das Wichtigste.“

Die
Reise war beängstigend. Unterwegs wurde über den Krieg gesprochen. Olena erzählte
nur einem Menschen, dass sie ihre Puppe bei sich hatte – einer Frau, mit der
sie sich auf Anhieb verstand. „Jetzt wohnt sie in Rostock, wir schreiben uns
noch regelmäßig“, sagt Olena. „Sie will immer wissen, wie es um Galatea steht,
und ich schicke ihr Fotos.“

An
der ukrainischen Grenze wurde Arthurs schon vor dem Krieg bestehende leichte
Behinderung nicht anerkannt. Als Mann im wehrfähigen Alter musste er in der
Ukraine bleiben. Olena fuhr allein nach Berlin weiter, wo ihre Cousine Galina
schon seit mehreren Jahren wohnte. Eigentlich wollte Olena ihre Reise nach
Spanien fortsetzen, wo ihre beste Freundin lebte.  Aber an ihrem ersten Tag in Berlin entdeckte
Olena zusammen mit Galina in Wedding eine Porzellanwerkstatt. Das war ein
entscheidender Moment: „Berlin bot mir die Möglichkeit, Galatea endlich aus
Porzellan herzustellen. Und deshalb blieb ich hier.“

Wenig
später kam Olenas Schwester zu ihr, und durch einen Freund der Nachbarin ihrer
Cousine fanden sie eine Altbauwohnung in einer von Bäumen gesäumten Straße.
Rein zufällig gehört das Apartment der Tochter eines großen Kunsthändlers und
liegt zwischen den Kunstgalerien von Berlin-Mitte. Olena nahm ihr Geld
zusammen, mietete einen Platz in der Porzellanwerkstatt und machte sich daran,
den Umgang mit Porzellan zu lernen.

„Ich empfinde Galatea als eigene Persönlichkeit, als lebenden Menschen.“

Olena
dachte, sie würde etwa einen Monat brauchen, um eine Porzellanversion von
Galatea anzufertigen. „Aber die Sprache war ein Problem“, sagt sie. „Ich hatte
viele Fragen und traute mich nicht, sie zu stellen. Ich machte immer wieder
Fehler, und dann musste ich von vorne anfangen.“ Sie träumte davon, genug Geld
zu sparen, um einen Porzellanbrennofen zu kaufen und mit nach Charkiw zu
nehmen, um dort nach dem Krieg eine Werkstatt zu eröffnen, wenn der Krieg vorüber
ist.

Ein
paar Monate später wurde Arthurs Behinderung anerkannt. Er durfte die Ukraine
verlassen und zog zu Olena und ihrer Schwester nach Berlin-Mitte. Alle drei
meldeten sich für Integrationskurse an. Eines Tages ließ Olena einen ihrer
neuen Porzellanköpfe fallen. Er bekam einen Riss. Sie war ganz aufgelöst, bis
Arthur meinte, der Riss, der als gerade Linie durch Galateas Auge verlief, sei
sehr reizvoll.

Als
im Herbst die Integrationskurse begannen, fehlte Olena die Zeit, um in der
Werkstatt in Wedding zu arbeiten. Aber auf dem Weg durch Mitte entdeckte sie
eines Tages in einem Kelleratelier ganz in der Nähe ihrer Wohnung einen
Brennofen. Er steht dort seit den Neunzigerjahren und wird von einer
russischen Künstlerin betrieben. Wenn Olena jetzt ein Paar Arme oder Beine
fertigstellt, bringt sie die Gliedmaßen dorthin und lässt sie brennen. Und sie
lernt, Porzellan zu bemalen.

Im
Winter freundete Arthur sich mit dem Nachbarn unter ihnen an, einem Rentner,
der leidenschaftlich gern aufklappbare Puppenhäuser aus Holz baut. Inspiriert
wurde er zu diesen ungewöhnlichen Bauten ebenfalls rein zufällig durch einen
Artikel in der Süddeutschen Zeitung vom September 2021 über eine hölzerne „Synagoge
zum Aufklappen
„, die ein Schweizer Architekt im
ukrainischen Babyn Yar gebaut hatte. Herr Helmuth, wie Olena ihn nennt,
spielt Schach mit Olenas Vater, der zu ihnen nach Berlin gekommen ist. Freitags
treffen sich alle zum Abendessen. Bei schönem Wetter machen sie manchmal draußen,
unter dem ältesten Kastanienbaum im Monbijoupark, ein Picknick. Olena erzählt
Herrn Helmut, dass sie immer noch zusammenzuckt, wenn sie Hubschrauber hört,
aber dass es besser wird.

Während
für Olena der zweite Sommer in Berlin beginnt, weiß sie noch nicht, ob sie
bleiben soll. Deutsch ersetzt allmählich Englisch als ihre wichtigste
Fremdsprache. Aber manchmal denkt sie voller Sehnsucht an ihre Wohnung und ihr
Atelier in Charkiw. An all ihre Farben, an die großen Räume. Sie überlegt, ob
sie einfach zurückgehen soll. Sie hat gehört, dass dort jetzt viel mit Beton
gearbeitet wird. „Ich mag Berlin sehr, mir gefällt die Vielfalt hier und wie aufgeschlossen
die Stadt gegenüber Künstlern ist“, sagt sie. „Aber meine eigene Stadt liebe
ich, und ich habe oft Heimweh.“

Dann zuckt sie mit den
Schultern. Durch ihre Kunst hat Olena schon immer die Gefühle ausgedrückt, die
sie nicht in Worte fassen kann. Jetzt, sagt sie, muss sie auch an Galatea
denken. Olena ist noch nicht ganz zufrieden mit ihr, sie fertigt immer noch
Teile neu an, knüpft die Haare anders, perfektioniert ihre Maltechniken. Sie
hofft, dass sie die Puppe eines Tages in einer Ausstellung zeigen kann. Am Ende
würde sie Galatea gern verkaufen – damit sie von dem Geld neue Puppen machen
kann. Aber vorerst kann Olena Berlin nicht verlassen, solange ihre Puppe nicht
fertig ist. „Ich empfinde Galatea als eigene Persönlichkeit, als lebenden Menschen“,
sagt sie. „Ich bin es ihr schuldig, sie fertigzustellen.“

Übersetzung:
Eva Kemper