Finnland und russische Bedrohung: Überleben proben

In Deutschland diskutieren viele gerade darüber, ob sie ihr Land bei einem Angriff verteidigen würden – in Finnland sind einer jüngsten Umfrage nach vier von fünf Befragten dazu bereit. Und man ist stolz darauf, wenn man für den Ernstfall trainieren darf. Die nationalen finnischen Verteidigungskurse sind im Land eine Institution; man kann sich nicht für sie bewerben, sondern wird eingeladen.

Teilnehmen dürfen nur die führenden Leute aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Presse. Viele von denen, die früher dabei waren, tragen heute noch mit Stolz die Anstecknadel mit dem Abzeichen der Kurse, bestehend aus Schwert und Säbel.

In dreieinhalb Wochen lernen die Teilnehmer in einer Art Crashkurs, das Land im Kriegs- oder Konfliktfall am Laufen zu halten. Der Kurs ist ein wichtiger Teil der finnischen Gesamtverteidigung, das heißt der Bereitschaft des Militärs, aber auch der Gesellschaft, einem möglichen Angriff standzuhalten. Finnlands Bevölkerung gilt als hochgradig resilient. Dem Nachbarn Russland hat man auch in den guten Jahren nie getraut. Zu tief verankert ist der Schrecken des sogenannten Winterkriegs, in dem die Sowjetunion den Nachbarstaat 1939 überfiel und die Finnen auf sich allein gestellt waren. Finnland war damals erst kurz zuvor unabhängig geworden. Davor war es mehr als 100 Jahre lang ein recht autonomer Teil des russischen Reichs gewesen.

Aus jener Zeit stammt das einstöckige historische Gebäude in der Hauptstadt Helsinki, in dem die Verteidigungskurse abgehalten werden. Einst gehörte es der russischen Kavallerie, nun werden dort die Teilnehmer des Nationalen Verteidigungskurses geschult. In einer Ecke des Raums stehen die Flaggen Finnlands, der NATO und der EU, an einer Wand hängt eine große Weltkarte. Den Teilnehmern wird im Raum ein „Multi-Krisen-Szenario“ präsentiert, das der stellvertretende Direktor der Verteidigungskurse, Oscar Lassenius, mitentworfen hat. Es sei wichtig, das Szenario kurz vor Kursbeginn noch einmal zu überprüfen, sagt der Oberstleutnant. Damit es in Zeiten hybrider Attacken nicht schon von der Realität eingeholt wurde.

Als mögliches Krisenszenario nennt Lassenius etwa eine Nuklearkatastrophe, schließlich gibt es ganz in der Nähe, auf der anderen Seite der 1300 Kilometer langen Grenze zu Russland, einige relevante Orte. Ein russisches Atomkraftwerk steht bei Sankt Petersburg, zudem sind Nuklearwaffen auf der Kola-Halbinsel stationiert. In dem Szenario fallen in Finnland plötzlich die Kommunikation und die Elektrizität aus, dazu die Kinderbetreuung. Viele Menschen müssen in Sicherheit gebracht werden, und dabei gibt es Probleme mit den Älteren. Um die Krisenübung noch schwieriger zu machen, ereignet sich parallel ein Zwischenfall in der Ostsee. Frachtschiffe sind nicht mehr in der Lage, Finnland zu beliefern. Dabei ist das Land gerade existenziell vom Meer abhängig. Aufgrund der Schließung der Grenze nach Russland kommen die Waren zu rund 95 Prozent über das Meer.

Müssen Gebiete evakuiert, Reservisten eingezogen werden?

Jeder Teilnehmer der Krisenübung übernimmt in einer Art Rollenspiel bestimmte Positionen, die möglichst wenig mit dem zu tun haben, was er sonst beruflich macht. Der eine mimt den Ministerpräsidenten, der andere einen Mitarbeiter der Presseabteilung. Gemeinsam berät man dann, wie mit der Krise umzugehen ist. Etwa: Ab wann muss der Ausnahmezustand ausgerufen werden?

Später gibt es einen Zeitsprung im Szenario: Drei Monate später hat sich die Lage deutlich verschärft, zur nuklearen Katastrophe kommt jetzt noch eine militärische Bedrohung hinzu. Auch die ist alles andere als unrealistisch. In dem Szenario sind nach einem Waffenstillstand in der Ukraine viele russische Truppen an die Grenze zu Finnland zurückgekehrt. Dass das passieren wird, davon gehen die Finnen aus. Möglicherweise wird in dem Szenario eine russische Invasion vorbereitet. Zudem sind große Teile der Ostsee durch die Russen faktisch gesperrt, und es kommt zu einzelnen Attacken auf die finnische Armee.

Muss die Bevölkerung dann aus bestimmten Gebieten im Osten des Landes weggebracht werden? Und wann aktiviert man eigentlich die Reservisten, die das Rückgrat der finnischen Armee bilden? Erst wenn wirklich jemand erschossen wird? Militärische Feinheiten werden in den Kursen nicht diskutiert, auch in bestehende Planungen des Militärs werden die Teilnehmer nicht eingebunden. Entscheidend sei eine gute Diskussion, sagt Lassenius – und dass die Teilnehmer ein Verständnis für die Komplexität der Situation entwickelten.

In einem anderen Szenario gibt es Probleme mit der Energieversorgung; Indizien deuten darauf hin, dass ein ausländischer Akteur für Sabotageaktionen verantwortlich ist. Also ein hybrider Angriff – im Ostseeraum ist das bereits ein vertrautes Szenario. Die Teilnehmer müssen dann entscheiden, ob man die mögliche Urheberschaft der Sabotage öffentlich machen soll. Angesichts der Vielzahl hy­brider Vorfälle im Ostseeraum wird darüber in Finnland in der Realität gerade oft diskutiert. Dabei müssen die Behörden aber oft abwägen. Einerseits gilt es, dem Gegner früh klarzumachen, dass man ihn im Blick hat, um weitere Taten zu verhindern. Zugleich finden viele der Attacken im Nebel der Unklarheit über den Urheber statt – und es gilt, Panik zu vermeiden.

Oscar Lassenius, stellvertretender Direktor der Verteidigungskurse
Oscar Lassenius, stellvertretender Direktor der VerteidigungskurseJulian Staib

Mit dieser Gratwanderung hat Finnland zuletzt einschlägige Erfahrungen gemacht. Nachdem im vergangenen Winter mehrere Unterwasserkabel durch ein Schiff der russischen Schattenflotte beschädigt wurden, setzten finnische Behörden das verantwortliche Schiff rasch fest und enterten es per Hubschrauber. Von der nächtlichen Aktion gibt es eindrucksvolle Aufnahmen. Die Mitglieder der Küstenwache, die damals im Einsatz waren, hätten vor Kurzem einen der Verteidigungskurse besucht, erzählt Lassenius. Die Teilnehmer hätten gefragt, wie es gewesen sei, das Schiff zu entern. „Das trainieren wir seit zehn Jahren. Daher fühlte es sich an wie jeden Dienstag“, habe die Antwort der Soldaten gelautet. Den Finnen wird oft nachgesagt, dass sie wortkarg und schüchtern seien. Mit der eigenen Abwehrbereitschaft aber prahlt man im Land gerne.

Im Kurs gibt es zudem viele Briefings, auch von Fachleuten außerhalb des Militärs, dazu Besuche bei verschiedenen In­stitutionen wie Geheimdiensten, militärischen Einrichtungen wie der Küstenwache, der Luftwache und der Armee, aber auch beim Parlament und im Außenministerium. Auch ein Überlebenstraining gehörte schon zu einem Kurs dazu. Dafür sollten die Teilnehmer auf dem Eis über das Wasser laufen, bis sie kontrolliert einbrachen und herausgezogen wurden – danach ging es ab in die Sauna.

Die Finnen sind stolz auf ihre Resilienz

Ein Kurs dauert knapp vier Wochen, freitags haben die Teilnehmer Pause – sie müssen nebenher ja auch noch ihren eigentlichen Job erledigen. Wobei erwartet wird, dass die Arbeitgeber sie für die Kurse freistellen. Die Teilnehmer sind Wirtschaftsführer, Parlamentsabgeordnete, führende Mitglieder von Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft. „Nicht nur Männer über 50 im Anzug – auch wenn es davon viele gibt“, sagt Lassenius. 75 Prozent der finnischen Parlamentsmitglieder hätten schon teilgenommen. „Es geht darum, die Schlüsselakteure zusammenzubringen, die im Krisenfall so schnell wie möglich Entscheidungen treffen müssen.“

Ausgewählt werden die Teilnehmer von einem Komitee, eingeladen dann von Finnlands Armeechef Janne Jaakkola, der auch die Kurse eröffnet und beendet. Absagen gibt es so gut wie keine. Rund 50 Personen werden pro Kurs geschult, pro Jahr finden vier Kurse statt. Seit 1961, als die Kurse ins Leben gerufen wurden, haben schon mehr als 10.000 Personen teilgenommen.

In Finnland hat der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, anders als in Deutschland, nicht zu einem großen Erwachen geführt. Die Invasion bestätigte vielmehr die schon immer bestehende Sorge vor dem großen russischen Nachbarn. An ihn musste die junge Nation in Folge von Winterkrieg und Fortsetzungskrieg große Teile ihres Gebiets abtreten. Was folgte, waren prekäre Jahre der Neutralität im Schatten der imperialistischen Großmacht. Aber immerhin, man überlebte, als eigenständiger, demokratischer Staat mit einer freien Marktwirtschaft.

Nichts Vergleichbares in Deutschland

Voraussetzung für dieses Überleben war und ist für die Finnen eine wirksame Gesamtverteidigung. Dazu gehören neben einer gut funktionierenden Infrastruktur die weitverbreiteten Schutzeinrichtungen im Land, aber auch das schlagkräftige Militär und eine resiliente Bevölkerung. Aufgrund des Wehrdienstes, der nie abgeschafft wurde und für alle Männer gilt, ist militärisches Wissen tief in der Gesellschaft verankert. Reservisten müssen regelmäßig Übungen absolvieren, doch auch viele Zivilisten besuchen Verteidigungs- oder Erste-Hilfe-Kurse. Auch in den ländlichen Regionen gibt es Kurse für die örtlichen Eliten, pro Jahr nehmen rund 68.000 Leute an ihnen teil. Die Kurse sind ähnlich ausgerichtet wie der Nationale Verteidigungskurs, doch geht es in den Szenarien um örtliche Krisen. Auf dem dünn besiedelten Land sind die Herausforderungen oft andere als in den Ballungszentren.

In Deutschland gibt es bislang nichts Vergleichbares. Zwar bietet auch die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) einige Kurse an, aber nur in deutlich kleinerem Umfang und mit anderer Ausrichtung. So gibt es etwa ein Führungskräfteseminar für Sicherheitspolitik. 18 Teilnehmer gab es in diesem Jahr. Thema: „Südasien – Zukunftsoptimismus, Partnerschaften, Konfliktlinien“.

Neben einer resilienten Gesellschaft gehört zur finnischen Verteidigungsbereitschaft auch eine der größten Armeen Europas, die zusammen mit Polen größte Artillerie, dazu Dutzende modernste amerikanische Kampfflugzeuge und vieles mehr. All das bringt Finnland mittlerweile in die NATO ein, der es infolge des russischen Angriffskriegs beitrat, und stärkt so das Bündnis. Ob dieses Versprechen auch andersherum gilt, daran gibt es in Helsinki vermehrt Zweifel, seit infrage steht, ob die USA wirklich zu Hilfe kämen, wenn der Beistandsfall durch einen russischen Angriff etwa auf einen baltischen Staat ausgerufen würde.

Gilt in Finnland derzeit als Glücksfall: Präsident Alexander Stubb (Mitte)
Gilt in Finnland derzeit als Glücksfall: Präsident Alexander Stubb (Mitte)Julian Staib

Die USA orientierten sich weg von Europa, aber Nostalgie sei keine Strategie, sagte Finnlands Präsident Alexander Stubb kürzlich zu den Teilnehmern des 254. Nationalen Verteidigungskurses. Stubb gilt derzeit als Glücksfall in Finnland, als richtiger Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Schließlich hat er das Ohr Donald Trumps wie wenige andere europäische Staats- und Regierungschefs – wohl nicht zuletzt, seitdem er mit ihm im Frühjahr eine ausführliche Runde Golf spielte. In Finnland bestimmt der Präsident die Außenpolitik mit und ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Der nationale Verteidigungskurs sei eine der grundlegenden Säulen der finnischen Verteidigung, erklärte Stubb den Teilnehmern. Dann fügte er hinzu: Wenn er nicht schon existierte, dann müsste man ihn erfinden.

Rainer Hindsberg, der Pressechef des finnischen Parlaments, trägt seine Anstecknadel des Nationalen Verteidigungskurses am Jackett. „Ich bin stolz, Teil von etwas Größerem zu sein“, sagt er. Als er 2016 teilnahm, habe er erst als Presseoffizier des Ministerpräsidenten, später als Verteidigungsminister agieren müssen, sagt Hindsberg. Auch damals kam in dem Szenario die Bedrohung aus dem Osten, die Situation eskalierte zusehends, unter Zeitdruck galt es, schwierige Entscheidungen zu treffen.

Der Kurs schaffe Vertrauen und Verständnis zwischen Regierung, Gesellschaft und Wirtschaft, glaubt Hindsberg. Dadurch bildeten sich wichtige Netzwerke, die Bestand hätten. Dreimal im Jahr träfen sich die früheren Teilnehmer nun und besuchten dabei verschiedene Institutionen, um sich weiterzubilden. Fünf und zehn Jahre nach ihrem Kurs werden die Teilnehmer zu kurzen Auffrischungskursen eingeladen. Alumni-Veranstaltungen gibt es auch. Die dienen dazu, die Teilnehmer zusammenzuhalten. Dadurch ende der Kurs eigentlich nie, sagt Oberstleutnant Lassenius.

Source: faz.net