Finale | Kriminalromane: Das Gute im Menschen, dies Sinister in dieser Welt
Was lernt man aus Kriminalromanen? Abgesehen davon, dass wir in einer großen, aber keiner guten Gesellschaft leben? Allerhand, wenn man denn will. So dürfte sich, wer die faktenbasierten Drogen-Epen des amerikanischen Autors Don Winslow gelesen hat, kaum über den Zusammenhang zwischen der naiven deutschen Cannabispolitik und den jüngsten Sprengstoffanschlägen im Rheinland wundern. Aber diese Feststellung steht aus guten Gründen im Konjunktiv. Der didaktische Effekt literarischer Werke ist seit jeher begrenzt. Auch wenn sie so nahe an der Realität sind wie der neue Thriller von Horst Eckert.
Nacht der Verräter weiß von Polizeikorruption ebenso wie von den brutalen Konkurrenzkämpfen im internationalen Drogenhandel. Sein Held, der tadellose Düsseldorfer Polizist Max Bauer, befindet sich im Visier interner Ermittlungen. Denn seine Stiefbrüder, ebenfalls Polizeibeamte, stehen im Verdacht, beim grenzüberschreitenden Handel mit illegalen Substanzen mitzumischen. Was das mit dem plötzlichen Verschwinden seiner Frau Julia zu tun hat, liefert den Stoff für einen genretypischen Plot mit hohem Realitätsanteil. Eckert ist ein Meister der Knappheit. 112 kurze Kapitel, rasante Szenenwechsel und ein knalliger Hauptsatzstil sorgen für Tempo, ohne dem aufklärerischen Anspruch der Handlungskonstruktion untreu zu werden. Das ist gekonnte Spannungsliteratur, die ernst genommen werden will.
Nacht der Verräter Horst Eckert Heyne 2024, 400 S., 17 €
Ein aufrechter Kriminalist mitdubiosem Umfeld steht auch im Mittelpunkt von Die April-Toten, dem vierten Band einer in Glasgow angesiedelten Retro-Reihe des schottischen Autors Alan Parks. Es ist das Jahr 1974, ABBAs Waterloo erschallt aus allen Musikboxen, und die IRA hat ihre Bombenattacken auf die britische Insel ausgeweitet. Auch im vom Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken geprägten Glasgow explodieren Sprengsätze. Als sich ein junger Mann beim Basteln einer Bombe selbst in die Luft sprengt, liegt also die Vermutung nahe, es handle sich um das Ungeschick eines Mitglieds der irischen Terrortruppe.
Doch Detective Harry McCoy weiß bald, dass hier gewaltbereite Fanatiker ganz anderer Couleur am Werke sind. Ziemlich verrückte dazu, denn ihrem charismatischen Anführer schwebt nichts Geringeres vor als ein vom Teufel Alkohol befreites Schottland. Selbstredend sind diese durchgeknallten Wiedergänger der radikalen Puritaner des 16. Jahrhunderts nicht das einzige Problem, mit dem sich McCoy herumschlagen muss. Da ist auch noch ein persönliches Anliegen eines Gangsters, dem der Polizist seit einer gemeinsam im Heim verbrachten Kindheit freundschaftlich verbunden ist. Ein schwerer Test für McCoys Loyalität. Kein Wunder, dass er von Magengeschwüren gequält wird. Hier ließe sich lernen, dass bei dieser Diagnose Alkohol, Zigaretten und Frittiertes zu meiden sind. Aber auch, dass besseres Wissen nicht vor praktischer Torheit schützt.
Die April-Toten ist ein Kriminalroman in guter schottischer Noir-Tradition, William McIlvanney und Ian Rankin lassen grüßen. An liebgewonnenen Klischees wird ebenso wenig gespart wie an sozialem Realismus, die besten Voraussetzungen für eine anteilnehmende Lektüre. Wer das mag, darf sich freuen. Zwei weitere Fälle für Detective McCoy harren der Übersetzung.
Die April-Toten Alan Parks Conny Lösch (Übers.), Polar 2024, 448 S., 26 €
Ganz ohne dunkle Seiten kommt Miss Emily Moore aus, eine ehemalige Agentin des britischen Geheimdienstes, deren detektivisches Gespür auch in hohem Alter noch intakt ist. Die pfiffige Ermittlerin mit Amateurstatus ist eine Erfindung der 1924 in Fürth geborenen jüdischen Journalistin Ruth Weiss, die als Zwölfjährige mit ihren Eltern vor den Nazis fliehen musste und lange in Südafrika gelebt hat. Ihr umfangreiches literarisches Werk enthält auch drei Kriminalromane, die nun in einer Neuausgabe vorliegen. Der Verlag kündigt die Bücher als „herrlich englische Krimireihe“ an und liegt damit, was das Ambiente angeht, nicht falsch.
Doch man täte den Büchern unrecht, würde man sie in die Cozy-Crime-Ecke verbannen, denn jedes von ihnen handelt von den Verbrechen der Nationalsozialisten und ihren Nachwirkungen in der Gegenwart. Typisch steht dafür ein Titel wie Miss Moore und die Stolpersteine, der die Pensionärin in einer münsterländischen Kleinstadt, wo man sich nur sehr ungern an das Schicksal der jüdischen Nachbarn erinnert, in einem aktuellen Mordfall ermitteln lässt. Ihre Nachforschungen führen, wie nicht anders zu erwarten, zurück in die oft verdrängte Vergangenheit und machen den Kriminalroman zu einer veritablen Geschichtsstunde. So überzeugt Ruth Weiss nicht nur durch ihr Erzählhandwerk, sondern auch als kluge Lehrerin.
Miss Moore und die Stolpersteine Ruth Weiss Edition AV 2024, 201 S., 18 €
Übrigens war Miss Moore schon als Amateurkriminalistin tätig, bevor Richard Osman die betagten Mitglieder seines Donnerstagsmordclubs erfolgreich auf Verbrecherjagd gehen ließ und damit jede Menge fiktiver Ermittler im Rentenalter auf den Plan rief. Vielleicht waren all die Nachahmer auch ein Grund dafür, dass der englische TV-Moderator nun ein neues, ebenso ungewöhnliches Team in den Kampf gegen das Böse schickt: den pensionierten Polizisten Steve Wheeler und seine als Personenschützerin arbeitende Schwiegertochter Amy.
Den verrückten Plot von Wir finden Mörder zu rekapitulieren, ist einigermaßen sinnlos, erwähnt sei nur, dass Privatjets, Devisenschmuggel und der wöchentliche Quizabend in einem dörflichen Pub eine Rolle spielen. Und schon nach wenigen Seiten fühlt man sich wie bei der Ankunft in einem Ferienhaus, wo man schon etliche Male gerne seinen Urlaub verbracht hat, weil es gut eingerichtet und attraktiv gelegen ist. Richard Osman ist ein souveräner Erzähler, dessen Stil sich durch sanfte Ironie, Situationskomik und viel Sympathie für seine Figuren auszeichnet. Man lernt, wieder an das Gute in seinen Mitmenschen zu glauben, ohne das Böse in der Welt zu vergessen. Zumindest für die Dauer der Lektüre.
Wir finden Mörder Richard Osman Sabine Roth (Übers.), List 2024, 432 S., 22,99 €
Erheblich beunruhigender ist die Wirkung eines schmalen Romans des haitianischen Schriftstellers Gary Victor, der bei uns durch seine Krimis bekannt wurde. Nun ist Eine Violine für Adrien nur sehr bedingt diesem Genre zuzurechnen, auch wenn es an Verbrechen nicht mangelt. Und diese sind systembedingt. Denn die Geschichte des 14-jährigen Adrien, der sein außergewöhnliches musikalisches Talent nicht entwickeln kann, weil seiner Familie das Geld für eine Violine fehlt, spielt 1971, kurz vor dem Tod des skrupellosen Diktators François „Papa Doc“ Duvalier, der das Land mithilfe seiner Miliz, der schreckenerregenden „Tonton Macoutes“, 13 Jahre lang terrorisierte.
Um seinen Traum zu verwirklichen, begibt sich Adrien auf Abwege und wird zum Instrument machtpolitischer Ränkespiele. Das tragische Ende ist ebenso vorhersehbar wie der Selbstekel des Protagonisten. Das macht die Lektüre dieses eindringlich erzählten Romans über die Korrumpierbarkeit unbedingten Kunstwillens so verstörend.
Eine Violine für Adrien Gary Victor Peter Trief (Übers.), Litradukt 2024, 145 S., 16 €
Eine jugendliche Heldin im Zwiespalt der Gefühle steht auch im Mittelpunkt von Sag mir, was ich bin, einem psychologisch grundierten, modernen Schauerroman der irisch-amerikanischen Schriftstellerin Una Mannion, der bar jeder Effekthascherei für eine Lektüre unter konstanter Anspannung sorgt. Ruby wächst bei ihrem Vater Lucas und ihrer Großmutter Clover im ländlichen US-Bundesstaat Vermont auf. Lange geht sie nicht zur Schule, sondern lernt alles Wichtige, nicht nur Schreiben und Lesen, sondern auch Jagd, Fischerei und Landwirtschaft, durch praktische Unterweisung.
Denn Lucas hält nicht viel vom staatlichen Bildungssystem. Überhaupt ist er ein eigensinniger Mann mit Prinzipien. Als es ihm nicht mehr gelingt, Ruby von der Schule fernzuhalten, versucht er dennoch, ihre Kontakte zu kontrollieren. Spätestens an dieser Stelle wird die scheinbare Idylle brüchig. Und man beginnt, Rubys Tante Nessa Garvey im fernen Philadelphia zu glauben, die der Überzeugung ist, Lucas habe ihre Schwester Deena, Rubys Mutter, umgebracht.
Nun erzählt Una Mannion aber nicht chronologisch, sondern in mit Jahreszahlen überschriebenen Kapiteln, die jeweils Ruby und Nessa zugeordnet sind. Der Roman beginnt 2018, als Ruby einen Anruf von ihrer Tante erhält, an die sie sich kaum erinnern kann. Nein, sie müssten nicht über ihren Vater reden. Aber Ruby könne jederzeit zu ihr nach Philadelphia kommen. Schließlich habe sie schon früher, als kleines Mädchen, bei Nessa gewohnt. Die junge Frau ist verunsichert und wir mit ihr. Ein Gefühl, das anhält, während sich die Handlung wie ein Puzzle Stück für Stück zusammenfügt. Und die Furcht vor einem Gewaltausbruch des unberechenbaren Kontrollfreaks Lucas immer größer wird.
Am Ende werden Sachverhalte geklärt, aber ob Rubys emotionale Ambivalenz überwunden ist, bleibt ungewiss. Una Mannions kunstvoll gestalteter Roman ist ein spannungsliterarisches Meisterstück und obendrein wohl auch sehr realistisch. Im Juli wurde er mit dem Gold Dagger Award als bester Kriminalroman des Jahres ausgezeichnet. Dass Sag mir, was ich bin auch ohne diese Genrezuschreibung preiswürdig ist, versteht sich nach der Lektüre von selbst.
Sag mir, was ich bin Una Mannion Tanja Handels (Übers.), Steidl 2024, 304 S., 28 €