Filmklassiker „Absolute Giganten“: Raus aus dem Betonblock in Eimsbüttel

Eigentlich war Frank Giering für eine ganz andere Rolle vorgesehen – die des mollig-gemütlichen Walters, eines harmlosen Au­tonerds. Einer der drei Typen, die Regisseur Sebastian Schipper für sein Debüt „Absolute Giganten“ (1999) suchte: ein teddyartiger Schrauber, ein aufgedrehter Schnacker und ein sehnsüchtiger Träumer. Doch Schipper sah in Giering Letzteres. Und besetzte ihn als Floyd, in der Hauptrolle.

Der Film erzählt von dessen letzter Nacht in Hamburg. Denn Floyd will alles hinter sich lassen. Den Betonblock in Eimsbüttel, in dem das Leben an ihm vorbeizieht. Die mehr als zweijährige Bewährungsstrafe aus Jugendzeiten, die zu Beginn der Handlung abgelaufen ist – und seine zwei besten Freunde Ricco (Florian Lukas) und Walter (Antoine Monot). Und so heuert Floyd auf einem Containerfrachter an. Über Kapstadt, soll es nach Singapur gehen, weiter an einen Ort, wo er hingehört. Erst einen Tag vor seiner Abreise, wagt Floyd es, seinen Freunden den Verrat zu offenbaren.

Männeromantik ohne Kompromisse

Das war die Fallhöhe, mit der Schipper seine Helden in ihre letzte Hamburger Nacht schickt: drei Jungs, die wie Pech und Schwefel aneinanderkleben – und vom Leben kleingehalten werden. Floyd muss als Pflegehelfer für seine Ver­gehen Buße tun. Ricco, der talentlose Rapper, phantasiert vom großen Durchbruch, während er unter der Knute seines Schichtleiters Burger­pattys im Akkord wendet. Der bei seiner italienischen Nonna lebende Walter, der Autos aufmotzen kann wie kein Zweiter, wird von seinem Chef in der Werkstatt geknechtet. Was die drei Ver­lierer vereint, sind große Träume – und eine Freundschaft, die schmerzhaft zu Ende geht.

DSGVO Platzhalter

Es ist Männeromantik ohne Kompromisse, voller Sehnsucht und Melancholie, die Schipper und sein Kameramann Frank Griebe vor rund fünfundzwanzig Jahren einfingen. Ihr Film strotzt vor Szenen, die einen traurig und glücklich zugleich machen. Voller nachhallender Bilder und Sätze, durchdrungen von der schwermütigen Musik der britischen Sadcore-Band Sophia. Etwa wenn die Freunde schweigend über die Köhlbrandbrücke in den blaugrauen Hamburger Morgen gleiten, nachdem sie das letzte Eis ihrer Jugend an einem Tankstellenautomaten gezogen haben. Wie so oft sucht Gierig mit seinem Sehnsuchtsblick die Ferne ab, und niemandem sonst würde man diesen sanften Schmerz abkaufen außer ihm.

Auch sein ebenso verträumtes wie trauriges Gegenstück, das Plattenbaumädchen Telsa, großartig gespielt von der damals achtzehn Jahre alten Julia Hummer, setzt Griebe ikonisch auf der Tanzfläche eines Technoclubs in Szene. Mit wehendem Haar und Cowboyhut wiegt sie ihren zerbrechlichen Körper im Strobolicht. Schipper schaute während des Drehs ungläubig auf seinen Monitor, wie er vor einigen Jahren in einem Interview erzählte. Für ihn war es der „ungebrochenste, gleißendste Glücksmoment des ganzen Films“.

Die traurige Verlorenheit, die in seinen blauen Augen lag

Wer von den eindrücklisten Szenen des Films schwärmt, kommt nicht am Tischfußball-Showdown vorbei, jenem ungleichen Duell am Kickertisch. Der abgebrühte Zocker Snake zieht die Jungs in einem ersten Match gnadenlos ab. Doch aufgeben ist nicht: Und so setzt Walter für eine Revanche die Schlüssel seines Ford Granada, Baujahr 1974, GLX Coupé, der die Helden in jener letzten Nacht wie im Road Movie von einem Abenteuer zum nächsten bringt.

Nicht nur unter Tischfußballern ist die Szene heute legendär. Schipper ließ sie vom damaligen Kickerweltmeister Florian Lienkamp und anderen Profis doubeln. Griebe vollendete die Per­fektion mit einer genialen Kameraarbeit. Mit einer Schnorchel-Konstruktion folgte er dem Ball zwischen den Spielfiguren, eine Plexiglasscheibe an der Wand des Kickertisches erlaubte es, das Match wie vom Spielfeldrand eines echten Fußballspiels zu verfolgen. Es sind jene Bilder, die „Absolute Giganten“ zu einem besonderen und kunstvollen Film machen. Einer Liebeserklärung an Hamburg, eine Ballade über die Freundschaft und die Underdogs. Und ein Denkmal für einen absoluten Giganten des deutschen Films.

Der Legende nach soll Frank Giering während jenes Castingprozesses im Jahr 1998 betrübt in die Kamera geblickt haben, weil er schon wieder ein Dickerchen spielen sollte. Stattdessen drückte man ihm den Text von Floyd in die Hände. Der „deutsche James Dean“, wie einige Kritiker ihn nannten, war spätestens jetzt gefunden. Der Magdeburger Ausnahmeschauspieler, der an diesem Sonntag vor vierundfünfzig Jahren geboren wurde und 2010 viel zu früh an einer Gallenkolik verstarb, spielte in seiner kurzen, aber intensiven Karriere oft kaputte Bösewichte. Sein Durchbruch gelang ihm etwa als sadistischer Familienmörder in Michael Hanekes „Funny Games“ (1997). Und dennoch war die Rolle des Floyds seine wichtigste. In ihr hallte sein eigenes Wesen wider; die traurige Verlorenheit, die in seinen blauen Augen lag.

Source: faz.net