Filmfestspiele von Venedig: Im Bett mit John, Yoko und Nicole Kidman
In diesen Tagen ist der Lido von Venedig ein heißes Pflaster. Bei drückender Schwüle um 30 Grad gibt es auf dem Filmfestival kaum ein Gespräch zwischen Vorführungen, in denen nicht über die Temperaturen gestöhnt, historische Vergleiche gezogen („the hottest festival in 30 years“) oder über Bewältigungsstrategien gefachsimpelt wird. Lange Schlangen bilden sich nicht nur vor den Kinosälen, sondern auch an den spärlich gesäten Wasserspendern. Die Sanitäter sind ohnehin im Dauereinsatz.
In Wallung bringen einen in diesem Jahr auch die Stars, die sich täglich gleich im Dutzend auf dem Roten Teppich tummeln und immer wieder für entzückte Schreie von Fans und Fotografen sorgen, die mit Schirmen bewaffnet in der prallen Sonne ausharren, um einen Blick auf Nicole Kidman, George Clooney oder Brad Pitt zu erhaschen. Der Promi-Schaulauf im Stundentakt ist dabei eine willkommene Rückkehr zum Normalzustand, nachdem die letzte Festivalausgabe wegen des Schauspielerstreiks in den USA fast ganz ohne große Namen auskommen musste.
Man sieht nicht die Callas, sondern Angelina Jolie, die sie imitiert
Nach der Eröffnung mit Tim Burtons müder Kindskopfhorrorkomödie Beetlejuice Beetlejuice, zu der Michael Keaton, Winona Ryder, Monica Bellucci und Jenna Ortega anreisten, begann der Wettbewerb des Festivals mit zwei Hollywood-Diven, die mit ihren Rollen sehr kalkuliert vermeintliche Komfortzonen verlassen. Angelina Jolie wagt sich nach Jahren der Leinwandpause in Pablo Larraíns elegischem Biopic Maria an die legendäre Operndiva Maria Callas, die sie in der letzten Woche ihres Lebens verkörpert, erzählt in einer Mischung aus historischen Eckdaten und von Callas imaginierten Momenten. Auch der Reporter, dem sie ihre Erinnerungen schildert, ist ihre Einbildung. Ihr Leben ist eine Performance, selbst zu Hause vor den Angestellten, die sie freilich durchschauen. Mit diesem Kunstgriff tanzt Larraín, wie ähnlich schon bei seinen anderen Ikonen-Porträts Jackie und Spencer, zwischen Realität und Camp, während man nicht die Callas, sondern stets Angelina Jolie sieht, die sie imitiert, bis zur Mimik beim Playback-Singen ihrer berühmten Arien.
Im Erotikdrama Babygirl von Halina Reijn verkörpert Nicole Kidman die CEO einer Robotikfirma, die sich mit einem deutlich jüngeren Praktikanten (gespielt von Harris Dickinson) einlässt und mit ihm eine SM-Affäre beginnt. Das ist mit relativ expliziten Szenen und dem Gestus des Tabubruchs über weibliche Lust und sexuelle Unterwerfungsfantasien inszeniert, bleibt aber doch recht oberflächlich, da kann Kidman noch so vermeintlich furchtlos agieren.
In The Room Next Door sind es gleich zwei Schauspielerinnen, die sich die Leinwand teilen. In seiner Adaption des autofiktionalen Romans Was fehlt dir von Sigrid Nunez spielt Julianne Moore die New Yorker Autorin Ingrid, die vom Krebsleiden einer alten Freundin hört, Martha (Tilda Swinton). Nach langen Gesprächen erklärt sie sich bereit, gemeinsam einige Wochen in einem abgelegenen Haus Neuenglands zu verbringen, wo Martha ihr Ende selbst bestimmen will. Es ist der erste englischsprachige Langfilm des fast 75-jährigen Spaniers, doch sofort ist man mittendrin im Almodóvar-Universum, in dem die Farben ein Eigenleben führen, das Gelb von Marthas Kostüm, das Grün des Liegestuhls auf der Veranda, die Blumentapete im Krankenhaus. Sie erzählen eine zweite Geschichte, während die beiden Freundinnen von Erinnerungen sprechen, gemeinsamen Liebhabern, vom Schmerz und vom Loslassen. Ein intimes Zweifrauen-Kammerspiel, das Almodóvars Auseinandersetzung mit dem Alter und Sterben nahtlos fortsetzt. Und auch wenn Swinton sich bisweilen im Overacting verliert, könnte am Ende die Jury unter Vorsitz von Isabelle Huppert sich gut für eine geteilte Auszeichnung für beide entscheiden.
Für den männlichen Darstellerpreis hat sich Adrien Brody beeindruckend in Position gebracht mit seiner Hauptrolle als nach New York geflüchteter Jude in Brady Corbets The Brutalist. Wenn das dreieinhalbstündige Epos nicht gar selbst einen der Hauptpreise am Samstagabend abräumt. Brody spielt den fiktiven ungarischen Architekten László Tóth, der am Dessauer Bauhaus einige Bauten realisierte. Dem Holocaust entflohen, versucht Tóth sich in den USA ein neues Leben aufzubauen. Nach einer Zeit des Darbens beauftragt ihn ein reicher Geschäftsmann mit dem Bau eines Gemeindezentrums. Zwischen kreativem Anspruch und Konflikten mit dem Gönner und der örtlichen, weißen Gemeinde, in der er immer Außenseiter bleiben wird, reibt er sich auf. Ein ambitioniertes Mammutwerk über den Nachhall des Holocaust, über Architektur und die amerikanische Nachkriegszeit, gedreht im Vistavision-Format, das fasziniert.
Andres Veiel gräbt tief in Leni Riefenstahls Nachlass
Um ein reales historisches Trauma kreist der deutsche Beitrag September 5 von Tim Fehlbaum, der den Terroranschlag während der Olympischen Spiele in München 1972 aus Sicht der Sportreporter des US-Senders ABC erzählt. Als sie zu plötzlichen Zeitzeugen der Geiselnahme im israelischen Quartier unmittelbar in der Nachbarschaft ihres Studios wurden, beschlossen sie, die Entwicklung vor Ort den Fernsehzuschauern in Echtzeit zu präsentieren. Ein packend und konsequent inszenierter Thriller, der zugleich über die technischen Kommunikationswege der Zeit reflektiert und dabei medienethische Fragen streift, die heute noch relevant sind. Denn die Livebilder, die sie vom Tatort um die Welt schickten, wurden von 900 Millionen Menschen gesehen – und brachten auch die Terroristen auf den aktuellen Stand. Die berichtenden Journalisten wurden zu Akteuren, die sich ihrer Verantwortung stellen müssen.
Bei allem Glanz und Spektakel lassen sich in diesem Jahr einige der spannendsten Entdeckungen in dokumentarischen Formen finden, die sich oft zwingenden Themen der Zeit widmen und mit einem breiten Spektrum eindrücklich beweisen, dass die Gattung weit mehr zu bieten hat als die üblichen True-Crime-Formate. Andres Veiel gräbt sich in Riefenstahl tief in den Nachlass der vor 21 Jahren verstorbenen NS-Propaganda-Filmemacherin, der seit 2018 im Besitz der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ist und ihm und der Produzentin Sandra Maischberger erstmals zugänglich gemacht wurde. Ihnen geht es vor allem um die perfide Selbstdarstellung, mit der sie bis zuletzt darauf beharrte, nichts gewusst zu haben und damit bei großen Teilen der deutschen Bevölkerung offene Türen einrannte, selbst noch in den siebziger Jahren. Die akribische Recherche bringt keine neuen Beweise, dazu hat sie das Material wohl auch zu sehr nach ihrem Gusto hinterlassen, doch es tauchen etliche Schnipsel auf, die entlarvend sind. Nicht verwendete Ausschnitte aus Interviews etwa, in denen sie auf Nachfragen wütend aufspringt.
John Lennon und Yoko Ono telefonieren
In One to One: John & Yoko rekapituliert Kevin MacDonald die 18 Monate, in denen John Lennon und Yoko Ono nach dem Ende der Beatles 1971/72 im West Village lebten. Sie verbrachten viel Zeit mit amerikanischem Fernsehen und engagierten sich politisch, unter anderem mit dem einzigen Solokonzert, das Lennon in seiner Karriere gab. Neben zahlreichen Archivaufnahmen, darunter private aufgezeichnete Telefonate und das aufwendig restaurierte 16-mm-Material des Konzerts, ließ MacDonald das New Yorker Apartment nachbauen, samt Fernseher, über dessen Bildschirm flimmert, was das Paar in dieser Zeit wohl alles gesehen hat, von den Waltons und Cornflakes-Werbung über Nixon in China bis zum Vietnamkrieg. So wird One to One ein vielschichtiges Panorama dieser Ära, das dem Publikum überlässt, die Schnipsel zusammenzusetzen.
Komplett auf historisches Fernsehmaterial greift Göran Hugo Olsson in Israel Palestine on Swedish TV 1958 – 1984 zurück, in dem er nüchtern und ohne Wertung TV-Reportagen aneinanderreiht, die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Schweden über Israel berichteten. Er zeigt damit, wie wenig objektiv und von wandelnden Anschauungen geprägt die Berichterstattung stets war. Eine erhellende Lektion auch in Sachen Medienkompetenz.
„Homegrown“ folgt echtsextremen Aktivisten und Trump-Anhängern
Noch gegenwärtiger sind zwei Langzeitbeobachtungen, die rechte Bewegungen porträtieren, Apocalypse in the Tropics von Petra Costa verfolgt den Aufstieg evangelikaler Prediger in Brasilien und deren Verbindungen zu Ex-Präsident Bolsonaro. Wie unumwunden der einflussreiche Televangelist Silas Malafaia vor Costas Kamera Auskunft über sein apokalyptisches Weltbild und seine Machtstrategien gibt, ist erschreckend.
Letzteres trifft erst recht auf Homegrown von Michael Premo zu, der über mehrere Jahre rechtsextreme Aktivisten und Trump-Anhänger begleitet, die sich auf Rallyes und über soziale Medien radikalisieren und nach den verlorenen Präsidentschaftswahlen 2020 unverhohlen zum Sturm auf das Capitol am 6. Januar 2021 mobilisieren. Der Schwarze Filmemacher kommt einigen dieser Extremisten erstaunlich nahe und es gelingen ihm Einsichten, die deutlich machen, dass ein möglicher Wahlsieg von Kamala Harris im November wohl auch mit Gewalt angefochten werden wird.