Film „The Bikeriders“ von Jeff Nichols: Das verlorene Biker-Paradies
Dröhnende, knatternde, heulende Motorengeräusche – der mitunter ohrenbetäubende Klangteppich, den Jeff Nichols in The Bikeriders ausbreitet, ist erwartbar – es geht um einen Motorradclub im Chicago der 1960er – und mitreißend zugleich. Doch mittendrin gibt es auch verträumte Szenen, in denen die Biker wie schwerelos über die Straße gleiten, mit ihren „Beehive“-Frisuren tragenden Partnerinnen im Rücken oder allein auf ihren mächtigen Maschinen. Ihre sonnenbeschienenen Gesichter strahlen Verwegenheit aus, während sie in streng hierarchischer Formation über die Straße brettern. Immer an der Spitze fährt Club-Gründer Johnny (Tom Hardy), der seine Vandals mit juvenilem Tatendrang, manchmal väterlicher Vernunft und – wenn nötig – harter Hand führt.
Die Idee für seinen Club kam Johnny, so zeichnet es der Film nach, im Kino: In Der Wilde (1954) antwortet Marlon Brando als ungehobelter Anführer des Black Rebel Motorcycle Club auf die Frage, wogegen er eigentlich rebelliere, bekanntermaßen: „Whadda you got?“ – „Was hast du anzubieten?“ – ein Satz, den man Johnny in leisem Eifer nachsprechen sieht.
Als Vorlage zu The Bikeriders diente kein klassischer Buch- oder Filmstoff, sondern ein Bildband. Der Fotograf und Journalist Danny Lyon brachte 1968 sein dokumentarisches Fotobuch The Bikeriders heraus, nachdem er vier Jahre lang die Chicago-Division des Outlaws-Motorradclubs begleitet hatte. In immersiver New-Journalism-Manier hatte er sich in diesen integriert, die Biker interviewt und sie in stimmungsvollen Schwarzweißaufnahmen porträtiert. Die Interviews finden sich zum Teil im gleichen Wortlaut im Film wieder – allen voran die Monologe von Kathy (Jody Comer), die Nichols zu einer Art Erzählerin macht.
Auf die Vandals, wie die Gang nun in Nichols’ Film heißt, stößt Kathy an einem Abend Mitte der 1960er, als sie sich in der Stammkneipe der Biker mit einer Freundin trifft. Die betrunkenen Biker baggern die jungen Frauen schamlos an – nur Benny (Austin Butler), in den sich Kathy augenblicklich verliebt, wirkt anders. Jung, schön und wortkarg ist Benny mit seiner gänzlichen Ergebenheit gegenüber dem Biker-Lifestyle keine sonderlich komplexe Figur. Vielmehr ist er das Ideal, ein Vorzeige-Objekt des ungestümen Geistes der Vandals zu ihrer Glanzzeit. Johnny vergöttert ihn entsprechend. Ein paar Wochen später sind Benny und Kathy verheiratet, und sie, die bis dahin ein braves Arbeiterinnenleben geführt hat, erlebt den Motorradclub mit seinen Picknicks, Rennen und Touren aus nächster Nähe mit.
Wahlfamilie der Geächteten
Jeff Nichols, der in Filmen wie Shotgun Stories (2007), Take Shelter (2011) und Mud (2012) oft einen besonderen Fokus auf beargwöhnte, verstoßene, undurchdringliche Männer am Rande der Gesellschaft gesetzt hat, porträtiert den Biker-Club in dieser frühen Phase als eine Art Wahlfamilie für Gleichgesinnte und Geächtete. Der junge Danny Lyon (Mike Faist) fotografiert die Raufereien, in denen sie ihren Status als Abtrünnige betonen. Da gibt es den stets angetrunkenen Zipco (Michael Shannon), den nicht einmal die US-Army in der Hochphase des Vietnamkriegs wollte. Da ist Cockroach (Emory Cohen), Familienvater und Ehemann, der bei jedem Club-Ereignis dabei ist, aber heimlich von einer Stelle als Motorradpolizist träumt. Und Johnnys rechte Hand Brucie (Damon Herriman), dem das Leben auf dem Motorrad deutlich mehr zusagt als das konservative familiäre Korsett, dem er entstammt.
Trotz gelegentlicher Schlägereien und verbaler Grobheiten stellen die Vandals keine echte Bedrohung für die Gesellschaft dar, sondern erinnern eher an die friedfertigen Protagonisten von Dennis Hoppers Kultfilm Easy Rider (1969). Dass es friedlich bleibt, darauf achtet in dieser Frühphase noch Johnny, dem Loyalität über alles geht. Seine Alleinherrschaft über den Club kann gleichzeitig jeder Vandal im Duell infrage stellen – „Fäuste oder Messer“ ist die Entscheidung, die es dann zu treffen gilt.
Dieses Bild einer rauen, aber nicht wirklich kriminellen Biker-Gemeinschaft ist zweifellos etwas schöngefärbt, man denke etwa an Hunter S. Thompsons Reportageroman Hell’s Angels von 1966. Thompson, der seinerzeit Danny Lyon explizit davon abriet, einem Motorradclub beizutreten, beschreibt das von den Bikern ausgehende Gewaltpotenzial sehr explizit. In der Popkultur schlägt sich das bis heute nieder: Wann immer es in Filmen und Serien um Motorradclubs geht, dreht sich der Plot um organisierte Kriminalität, man denke etwa an die aggressive Cthulhu-Motorradgang in der deutschen Serie 4 Blocks oder das ständig mit dem Gesetz in Konflikt stehende Treiben der Sons of Anarchy.
Doch auch bei den Vandals setzt mit der Zeit ein Kulturwandel ein. Nichols zeigt ihn als Ergebnis einer Mitgliedererweiterung. Obwohl sich Johnny anfangs noch dagegen wehrt, erhält der Club nach und nach weitere Divisionen in anderen Städten. Doch bei den neuen Bikern handelt es sich eben oft um traumatisierte und drogenabhängige Vietnamkriegsveteranen oder um junge, gewaltbereite Männer, denen Fäuste und Messer nicht destruktiv genug sind. Kathy, die ihren Benny schließlich von einem sesshaften Leben an ihrer Seite überzeugen will, gerät über die immer unkontrollierter werdenden Auswüchse des Clubs in Konflikt mit Johnny. Beide ringen um Bennys Gunst; spätestens als dieser sich zurückzieht, setzt der Werteverlust der Vandals vollends ein.
The Bikeriders, in der ersten Hälfte noch von schwelgerischer Romantik getragen, vollzieht schließlich mit einer an Paul Thomas Andersons Boogie Nights (1997) erinnernden Intensität den tragischen Niedergang einer einst idyllisch erscheinenden Gemeinschaft nach. Einen melancholischen Trost liefert das überraschend vielschichtige Drama in seiner letzten Einstellung: Da sieht man den vermeintlich gebändigten Benny, in dem dennoch die Erinnerung an den freiheitsliebenden Geist dieser Subkultur genauso wie an das Dröhnen der Motoren nachhallt.
The Bikeriders Jeff Nichols USA 2024, 117 Min.