Film „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“: Wer schreibt Geschichte?

Wolfgang Becker drehte einst mit „Good Bye, Lenin!“ eine Kultkomödie. Sein letzter Film „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ erzählt nun von einem Hochstapler, der Deutschland das serviert, was es über den Osten hören und glauben will


Katharina Witt und Charly Hübner

Foto: Frédéric Batier/X Verleih


Ein Fehler bei der Weichenstellung und schon ist es passiert: Massenflucht. 127 DDR-Bürger gelangen im Sommer 1984 mit der S-Bahn plötzlich nach Westberlin. Der Mann, der dafür angeblich verantwortlich gewesen sein soll, fristet inzwischen ein unscheinbares Dasein.

Im Prenzlauer Berg betreibt Micha Hartung (Charly Hübner) eine Videothek vor dem Ruin, doch nun ist seine große Stunde gekommen. Ein Journalist (Leon Ullrich) wird auf Hartung aufmerksam und wittert eine Titelstory zum Mauerfalljubiläum. In der Redaktion kommt die Geschichte über den ehemaligen Weichensteller und vermeintlichen Fluchthelfer bestens an. „So’n bisschen Lokalkolorit und doch die ganz große Bühne.“ Den „ostdeutschen Oskar Schindler“ wähnt man in ihm.

Also wird die Sache aufgebauscht, abgedruckt und schon ist das Heldennarrativ perfekt. Hartung spielt das lukrative Lügenspiel und die Rolle mit, die man ihm aufgestülpt hat. Zugleich setzt das schlechte Gewissen ein. Was ist damals wirklich nachts am Bahnhof geschehen?

Wolfgang Becker hat mit Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße den gleichnamigen Roman von Maxim Leo aus dem Jahr 2022 verfilmt. Neben der Regie verantwortet Becker gemeinsam mit Constantin Lieb auch das Drehbuch. Es ist das letzte Werk des Filmemachers, nachdem er im Dezember 2024 kurz nach Ende der Dreharbeiten verstarb. Wegbegleiter von Becker haben die Romanadaption postum fertiggestellt.

Erinnerungskultur wird zur Fabel

Die unerhörte Begebenheit, also die Fluchtgeschichte, die dabei Ausgangspunkt des Romans und der Verfilmung bildet, ist zwar fiktiv, gibt aber Anstoß für ein hochbrisantes Kabinettstück über heutige verquere Geschichtsbilder und deren Erzählungen. Schließlich ist der Film damit vieles zugleich: Tragikomödie, Satire, Krimi-Räuberpistole.

Sogar eine Romanze findet ihren Platz! Der Hochstapler Micha verliebt sich während seines späten Aufstiegs in die Staatsanwältin Paula (Christiane Paul), die damals in der fehlgeleiteten Bahn saß und nun dem Charme ihres angeblichen Retters erliegt. Im Hintergrund zeichnet sich derweil ein Katz-und-Maus-Spiel ab. Die Täuschungen Hartungs und des Medienbetriebs drohen aufzufliegen, während sie eine immer größere Eigendynamik entwickeln.

Beckers Beitrag zum Thema Erinnerungskultur entwirft so ein angemessen komplexes Netz, das sich von ökonomischen Verhältnissen der Wendeverlierer über das Inszenieren von Gedenkorten, die Rolle der Werbe- und Unterhaltungsindustrie bis zu journalistischen und politischen Narrativen erstreckt.

Eine skurrile Situation folgt dabei auf die andere: Charly Hübners Figur wird zur Einweihung einer Gedenktafel bestellt. Stahlguss. Für die „Haptik der Diktatur“. Im Fernsehen sitzt Micha neben Katarina Witt und eine Verfilmung seiner Biographie lässt ebenfalls nicht lang auf sich warten. Wer ihn darin verkörpern soll: natürlich Daniel Brühl, der hier den Schauspielstar Alex Allonge verkörpert.

Geschichte als Illusion

Auch von solchen ironischen Auftritten lebt diese Satire, und sie schließt über ihre prominente Besetzung und thematischen Bezüge einen Kreis zu Beckers größtem Erfolg Good Bye, Lenin!. Schon in dem Kultfilm von 2003 wurden die Wende und das Erinnern an die DDR zum großangelegten Täuschungsmanöver. Ein Sohn (Daniel Brühl) versuchte, zu Hause noch einmal für seine labile Mutter (Katrin Sass) die untergegangene DDR aufzubauen. Geschichte sollte als Illusionsraum wiederauferstehen, aber worauf wird sie dabei beschränkt? Welche Eindrücke müssen gefiltert werden und welchem Bild entsprechen sie am Ende?

Bis heute ist die Tragikomödie einer der cleversten Filme zum Thema Ostalgie. Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße ist zwar formal beliebiger geraten – eindringliche Bilder gibt es leider kaum zu sehen – doch die Idee von der Geschichte als Illusion wird hier noch verzwickter.

Beckers neuer Film beobachtet Jahre später, wie sich ein ganzes Land in einer solchen Illusion eingerichtet hat. Er formuliert eine anregende Polemik gegen Instanzen und Strukturen, die den Osten vor allem in einer Fülle an Klischees und Zuschreibungen betrachten und darauf eine kollektive Identität zu festigen versuchen. Hauptsache, die Worte sind pathetisch genug. Hauptsache, die Geschichte passt gut ins vorgefertigte Bild. Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße zeigt damit: Wo das Denken und Sprechen über die DDR nur noch im Modus der Betroffenheit, der Opfer- und Heldenmythen, kruden Vergleiche oder der Lust an Gruselgeschichten passiert, wird Realität zum hohlen Spektakel und Konsumprodukt.

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße Wolfgang BeckerDeutschland 2025, 112 Min.