Eyal Weizman: „Wir sind nicht neutral“

Mit einer ganz neuen Mischung aus
Kunst, Menschenrechtsaktivismus und investigativer Recherche sorgt Forensic
Architecture
seit 2010 für Aufsehen. Gegründet wurde die Forschungsagentur an
der Goldsmiths-Universität in London von dem Architekturprofessor Eyal Weizman.
Heute arbeiten mehrere Dutzend Architekten, Softwareentwickler, Filmemacher,
Anwälte und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen für die Agentur. Sie
recherchieren, so die Selbstbeschreibung, Fälle von Staatsgewalt und
Menschenrechtsverletzungen rund um die Welt. Dabei nutzen sie neue, teilweise
selbst entwickelte Methoden – die inzwischen auch von großen Medienhäusern
übernommen wurden. Nun wird das Kollektiv mit dem Right Livelihood Award ausgezeichnet, dem sogenannten Alternativen Nobelpreis, den in der Vergangenheit etwa die Redaktion der türkischen Zeitung Cumhuriyet und Persönlichkeiten wie Astrid Lindgren erhalten haben.

ZEIT ONLINE: Gratulation zum Right Livelihood Award, Herr
Weizman. Ist der Preis für Sie und Ihr Team in diesem Moment von besonderer
Bedeutung?

Eyal Weizman: Es ist eine Zeit großer Trauer und Gewalt. Niemand,
der wie wir Kontakte, Freunde und Partner hat, die im Libanon, in Gaza und
jetzt auch in Israel unter Beschuss sind, ist in der Stimmung für
Preisverleihungen. Aber wenn wir ausgezeichnet werden, dann ist dies der Preis,
den wir immer bekommen wollten. Einige der größten Helden von Forensic
Architecture
wie Sheila Watt-Cloutier, Ken Saro-Wiwa, Amy Goodman und Raji
Sourani, die Whistleblower Daniel Ellsberg, Edward Snowden und viele weitere
wurden in der Vergangenheit mit dem Preis ausgezeichnet. Besonders freut es
mich, zusammen mit meinem Freund Issa Amro aus Hebron geehrt zu werden.
Normalerweise gewinnen wir lieber Fälle vor Gericht als Preise. Diese
Auszeichnung aber ist unglaublich wichtig, denn wir stehen derzeit unter Druck.

ZEIT ONLINE: Welchen Druck meinen Sie?

Weizman: Es kommt viel zusammen: Nie war unsere Arbeit so
gefragt, zugleich hat unser deutsches Büro Forensis seine Förderer verloren. In
Deutschland wird auch die Legitimität unserer Organisation und unserer Arbeit
angezweifelt. Insofern ist der Preis eine Bestätigung für die Art und Weise,
wie wir Technologie und neue wissenschaftliche Methoden mit Aktivismus und
ästhetischem Feingefühl verbinden. Und der Preis wird auch den Communitys
helfen, mit denen wir zusammenarbeiten.

ZEIT ONLINE: Warum stehen sie in Deutschland besonders
unter Druck?

Weizman: Anders als in der angelsächsischen Welt stammt das
meiste Fördergeld in Deutschland nicht aus privaten Stiftungen, sondern aus der
öffentlichen Hand. Das ist großartig. Aber es gibt eine Schwelle, die man in
der Kunstwelt und bei der Menschenrechtsarbeit in Deutschland nicht
überschreiten darf. Viele Initiativen und Künstler stolpern jetzt über diese
Schwelle. Der Konflikt um die Fakten ist ideologisch geworden. Loyale
Förderer sind dem politischen Druck gewichen.

ZEIT ONLINE: Das hört sich schwammig an.

Weizman: Ich arbeite seit vielen Jahren in Deutschland.
Ich habe eine deutsche Frau, meine Kinder sind deutsch. Meine beiden Eltern wurden in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg in einem DP-Lager für Displaced Persons geboren, ihre Eltern hatten knapp den Holocaust überlebt. Es brauchte Zeit, um nach Deutschland zurückzukehren, es war nicht einfach. Ich war aus vielen Gründen sehr beeindruckt von der
Zivilgesellschaft in Deutschland. Ein Grund, warum wir als Forensic
Architecture
nach Deutschland gekommen sind, ist die Solidarität unter den
aktivistischen Gemeinschaften, die es nach rassistischen Übergriffen in der
Bevölkerung gibt. Andererseits sehe ich mich in den letzten Jahren, nicht erst
seit dem 7. Oktober, mit einer deutschen Gesellschaft konfrontiert, die
unglaublich monolithisch im Denken ist. Wenn es um Israel, Palästina oder das
historische Gedächtnis geht, wird die Diskussion hier sehr einheitlich und
verarmt.

ZEIT ONLINE: Haben Sie ein Beispiel?

Weizman: Es herrscht Angst davor, Israel zu kritisieren, ja
sogar Angst davor, Juden, die Israel kritisieren, zu unterstützen. Der Diskurs
in Deutschland ist sich in dieser Frage sehr einig. Man unterstützt hier von rechts bis
links eine nationalistische Politik in Israel, statt sich für
Gerechtigkeit und Gleichheit einzusetzen. Der Raum für Diskussionen schrumpft. Es herrscht eine Überwachungswut über die Sprache und die Begriffe. Deutschland
hätte stattdessen ein Raum sein können, in dem ein Austausch stattfindet, der
in Nahost nicht möglich ist.

ZEIT ONLINE: Öffentlich geworden ist der Fall an der
RWTH in Aachen, wo im Dezember 2023 ein Vortrag einer Ihrer Mitarbeiterinnen
abgesagt wurde.

Weizman: Das ist nur ein Vorfall von vielen. Der Vortrag
sollte von der Beteiligung der Amsterdamer Polizei an der Tötung einer
rassistisch diskriminierten Person handeln, nicht von Israel. Trotzdem wurde er
auf Weisung des Rektors abgesagt, weil man unsere Position zu Israel ablehnt.
Das Ergebnis dieser Politik ist, dass Studierende keinen Zugang mehr zu unserer
Arbeit haben. Und wir haben den Zugang zu unseren Förderern verloren.

ZEIT ONLINE: Der Vorwurf vieler Kritiker ist, dass Sie
parteiisch sind für die Sache der Palästinenser. Schon die ersten
Rechercheprojekte von Forensic Architecture drehten sich um israelische
Staatsgewalt, auch viele Ihrer neuesten Projekte behandeln dieses Thema. Sind
sie voreingenommen?

Weizman: Das Prinzip von Forensic Architecture ist: Wir
sind nicht neutral. Und das gilt nicht nur für den Konflikt um Palästina. Wir
verbünden uns immer mit gefährdeten Gemeinschaften oder Befreiungskämpfen. Wir
arbeiten für die Angehörigen von Oury Jalloh, der in einer Polizeizelle
verbrannte, wir arbeiten mit den Nachkommen des Herero-Volkes, das von den
deutschen Kolonialtruppen massakriert wurde. Wir arbeiten im Auftrag der
Familien jener Menschen, die am 19. Februar 2020 in Hanau ermordet wurden. Wir überprüfen
die Arbeit der Polizei. Wir mischen uns übrigens immer nur im Auftrag der
betroffenen Gemeinschaften oder Angehörigen, niemals unaufgefordert in die
Traumata anderer Menschen ein.