Exzess | Roman „Good Girl“: Nilas Reise durch Berliner Nächte

Die 19-jährige Nila versucht durch Drogen und langen Nächten in Berliner Clubs, ihren Problemen zu entfliehen. Aria Aber erzählt in ihrem Roman „Good Girl“ eine Coming-of-Age-Geschichte und macht trotzdem sehr vieles anders


Die Beschreibung der Berliner Untergrundszene entfaltet eine Mystik

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Nila geht feiern in den Techno-Clubs von Berlin, ballert Drogen jeglicher Art. Frisch aus dem Internat, wo Lolita, The Virgin Suicides und Bücher von Kafka ihre Stütze waren, stürzt sie sich nun in eine ungleiche Romanze mit einem älteren amerikanischen Schriftsteller, der sie sexuell dominiert, ihr aber auch Zugang zur Welt der vermeintlich Intellektuellen und Kultivierten verschafft. Schließlich träumt sie davon, an einer Londoner Kunsthochschule zu studieren und Fotografin zu werden. Doch bis dahin kellnert sie in einem Jazzclub.

Wie ein weiteres Potpourri der zeitgenössischen Coming-of-Age-Literatur mutet Aria Abers Debütroman an. Doch die Beschreibung der Mystik des Berliner Untergrunds und die Suche nach einer identitätsstiftenden Erweckung, die sowohl fiktionale als auch reale Personen am Sehnsuchtsort Berlin suchen, hat in Good Girl eine andere Intention. Denn Nila betäubt sich nicht, um anders zu sein. Sie betäubt sich, um angepasst zu sein, endlich ein normales Leben zu führen. Ihre Eltern waren Ärzte in Kabul.

Sie flohen mit gefälschten Papieren, Nilas Geburt verzögert ihre Abschiebung, bis sie schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten. Ihren Beruf als Ärzte können sie trotzdem nicht ausüben, schambehaftete Jobs finanzieren ihr enges Leben in einem mit Hakenkreuzen beschmierten Hochhaus der Gropiusstadt. „Die kurzzeitige Tätigkeit meines Vaters bei McDonalds war ein großes Geheimnis: Er bestand auf Nachtschichten, wendete Burger in der Küche und vermied es, gesehen zu werden. Sein Kragen stank nach Fritierfett, wenn er morgens auf der Couch in sich zusammensank. Und so bin ich aufgewachsen: im Schatten eines gerechteren, besseren Lebens.“ Nach Jahren des verbitterten Exils stirbt die Mutter, als Nila 16 Jahre alt ist. Ihr Vater, ein Marxist, der einst von einer besseren Welt träumte, lebt weiter in der Wohnung, die mit Depression getränkt ist.

Immer wieder aufwachen

Nila sollte ein weniger tristes Leben führen, dafür hatten die Eltern sie mit Hilfe eines Stipendiums an ein Internat im Süden Deutschlands geschickt. Und während sie dort gute Noten schreibt, professionalisiert sie das Verheimlichen. Immer wieder kommt Scham auf: für ihre Armut, für ihre Herkunft. Als einziges Mädchen mit schwarzem Haar in der Schule erfindet sie einen anderen Migrationshintergrund: mal spanisch, mal kolumbianisch, mal israelisch. Bloß nicht afghanisch, um nach 9/11 Argwohn zu vermeiden. In Berlin, isoliert von Mitschülern und Verwandten, entfremdet sich Nila. Sie will außergewöhnlich sein: Arthouse schauen, Indie-Musik hören, Kanons lesen, zu denen selbst ihre gebildeten Eltern nie Zugang hatten.

Und sich von den tadelnden Augen der Tanten und Onkel und der muslimischen Bäcker in der Neuköllner Nachbarschaft loslösen. Auch wenn sie sich allen Erwartungen und Regeln einer Dokhtar-e Khoob, eines guten Mädchens, widersetzt, sind auch die Menschen in der vermeintlich aufgeklärten Berliner Szene nicht ihr Zuhause. In Good Girl suhlt sich die Protagonistin Nila die meiste Zeit in destruktiven Gedankensträngen, Sex und Drogenexzesse mit Farblosen ohne tatsächliches politisches Rückgrat, nur um immer wieder aus dem narkotischen Zustand aufzuwachen.

Sei es, weil in den Nachrichten eine Bombe im kilometerweiten Bremer Migrantenviertel detoniert, „die Witwe des kurdischen Ladenbesitzers blinzelte mit blauen Augen und Hakennase in die Kamera: Er war ein ganz normaler Mann, er war gern zu Hause und kochte Bohnensuppe. Er war kein Krimineller“. Oder weil Neonazis von ihrer Romanze als lustige Gesellen zur Afterhour eingeladen werden oder sie beim Fusion Festival sieht, dass eine Straße auf dem Gelände nach der afghanischen Bürgerrechtlerin Meena Keshwar Kamal benannt wurde, auf der nach „Kurkumaschweiß“ riechende, schwer atmende Männer in Zelten beim Yoga weinen.

Aria Aber nimmt zwei Milieus scharf auseinander und schafft dabei erfrischend einen Roman, der sich nicht der Young Adult Fiction oder der klassischen Migrationsliteratur zuordnen möchte, sondern mit Realismus auf das Aufwachsen einer jungen Frau blickt, die nie eine Chance hatte, ein geradliniges Leben zu führen. Wie ihre Romanfigur Nila ist Aria Aber in Deutschland aufgewachsen. Heute lebt sie im US-Bundesstaat Vermont. Good Girl schrieb sie zuerst auf Englisch und übersetzte den Roman selbstständig für den deutschen Buchmarkt.

Good Girl Aria Aber Claassen 2025, 400 S., 25 €