Experiment | „Love is blind” ist, wenn Frauen ihre Ansprüche so tief wie möglich halten
Love is Blind (LiB) will seriöser sein als andere Datingshows. Es geht hier nicht darum, dass eine Gruppe heißer Singles möglichst viel Haut zeigt, Chaos und Intrigen stiftet, nein, die Show – so das Versprechen – ist ein „Experiment,“ an dessen Ende der größte vorstellbare Gewinn wartet: die große Liebe, besiegelt mit einer Eheschließung vor laufender Kamera.
Bei LiB lernen sich Männer und Frauen in zehn Tagen durch eine Wand hindurch kennen, führen Gespräche in sogenannten „Pods“, und erst wenn es zu einem Heiratsantrag kommt, sehen die Verlobten sich zum ersten Mal. Schon nach wenigen Wochen des Zusammenwohnens in der „echten“ Welt und Kennenlerntreffen mit Freund*innen oder Familie stehen sie dann vor dem Altar. Ein riesiger Erfolg in den USA, hat die Show zu Ablegern weltweit geführt, diesen Januar auch zur gespannt erwarteten ersten deutschen Staffel. Spoiler: Alle Augen blieben viel zu trocken.
Der heimliche Zugewinn: neue Follower*innen und Markendeals
„Ich bin hier, weil ich wegen meines Aussehens zu oft als Fuckboy missverstanden werde“, stellt sich Tolga, 34, Versicherungsvertreter, vor. „Magst du Barbies“, fragt Hanni, 27, Immobilienmaklerin, suggestiv ihr Gegenüber – auch in einer Show, die bis zum Abwinken die mysteriösen „inneren Werte“ betont, möchte sich dann doch nicht jeder bloß auf seinen Charakter verlassen. Kein Wunder, denn der Kampf um die Liebe bei LiB gleicht einem kompetitiven Spiel: Die Zeit ist begrenzt. Nur wer überzeugend genug ist und sich einen Heiratsantrag an Land zieht, kommt in die nächste Runde. Wer in der Zeit keine tiefe Bindung aufbaut, taucht in der ausgestrahlten Serie nicht mehr auf und kann dann nicht mal den heimlichen Zweitgewinn, neue Follower*innen und Markendeals, abgreifen.
Einer der Fehler der deutschen Staffel liegt darin, diese Wettkampflogik nicht gut genug zu verschleiern. Während Kandidat*innen anderer nationaler Ausgaben schon in den ersten Minuten genauso über ihre Zukunftsvorstellungen wie über traumatische Lebensereignisse reden und sich (immer!) unter Tränen die Liebe gestehen, fragen sich die deutschen Kandidat*innen lieber nach ihren Berufen – das ist eine erstaunliche Ansammlung nichtssagender „Bullshitjobs“ von Immobilienmakler bis irgendwas mit Network Marketing. Auch die Heiratsanträge fühlen sich hierzulande mechanisch an, nach dem Motto: Möchtest du mit mir ins nächste Level eintreten?
LiB Germany verfehlt damit seine wichtigste Aufgabe: Anlass zum Träumen zu bieten und die erlösende Kraft der romantischen Liebe glaubhaft zu verkaufen. Wozu schauen wir sonst zu? Als Zuschauer*in möchte ich zusammen mit den Kandidat*innen bei ihrer ersten Liebeserklärung nervös werden, mich über das Verhalten der anderen aufregen und sie drei Jahre nach ihrer Hochzeit googlen um zu erfahren, ob sie immer noch zusammen sind. Um mitzufiebern braucht es echtes Drama, wahrhaftige Gefühle und die Angst um gebrochene Herzen – aber wenn es bis zum Finale dauert bis das erste leise „Ich liebe dich (echt)“ fällt, welche Herzen standen dann je auf dem Spiel? „Was für eine lieblose Staffel“, kommentiert eine Person auf Reddit.
Die wenigen magischen Momente bei LiB Germany – etwa wenn sich der Kandidat Medina und seine noch-nicht-Verlobte Sally in den Pods unabgesprochen dasselbe Bibelzitat widmen–, reichen nicht aus, um die Illusion des erfolgreichen „Experiments“ aufrechtzuerhalten. Es mag teilweise am Schnitt liegen, aber bei den allermeisten Paaren ist es schwer nachzuvollziehen, was genau sie verbindet. So ist der intimste Moment der Kandidat*innen Jen und Marcel in den Pods ein langanhaltendes Schweigen, von dem beide plötzlich sehr bewegt sind. Klar, das kann schön sein, aber deshalb eine Verlobung?
Kandidat*innen, die aus den „richtigen Gründen“ bei LiB sind, also nicht „nur für fame“, was die schlimmste Sünde in der Welt des Reality TV ist, wünschen sich nichts sehnlicher als endlich mit der anstrengenden Partnersuche aufhören zu können und das perfekte Match zu finden. Die 25-jährige (!) Kandidatin Alberta ist eine von sehr vielen die sagt: „Ich bin in die Show gekommen, weil ich krieg das alleine nicht hin, ich schaff das nicht.“ Die meisten Zuschauer*innen, werden sich darin wiederfinden können, denn langes Dating, ob online oder analog, macht den wenigsten Spaß. Die Vorstellung von Komplexitätsreduktion, davon, sich in einem kurzen Zeitraum in einem vorgegebenen Setting, fernab von strukturellen Problemen, Care-Arbeit, oder Alltagslogistik, zu verlieben und dann diese ganze Sache mit der Partnerschaft für immer geklärt zu haben, kann erleichternd sein.
Reality Romance ist ein übersteigerter kultureller Ausdruck einer gesellschaftlichen Realität: Niemand will alleine bleiben. Egal welchen Hintergrunds, die Sehnsucht nach Geborgenheit und Sicherheit ist universell: In einer Welt voller Krisen und Zukunftsängste, in der gegenseitige Verantwortung und Fürsorge in der Privatheit der Kernfamilie organisiert sind, ist die Suche nach Liebe überlebensnotwendig. Als Antwort darauf könnte es auch TV-Formate geben, in denen Menschen eine Kommune gründen oder am Primat der romantischen Liebe rütteln, de facto bieten aber Formate wie LiB nur die eine Lösung für das Einsamkeitsdilemma an: die heterosexuelle Ehe inklusive patriarchaler Geschlechterrollen.
Ein Fall von Heterofatalismus
Bei LiB können wir dabei zusehen, wie Frauen ihre Ansprüche so niedrig wie möglich halten, um den Traum einer Ehe nicht aufzugeben. Sie haben keine andere Wahl, denn selbst die „guten“ Männer im LiB-Universum erweisen sich früher oder später als Enttäuschung, Machos hingegen rehabilitieren sich häufig durch eine noch so kleine romantische Geste. Es ist schmerzlich zu sehen, wie die Frauen in dieser Show beim Kampf um Zuneigung teilweise selbst immer kleiner werden.
Die Immobilienmaklerin Shila tritt in den Pods als sehr selbstbewusste und direkte Frau auf, wird von ihrem Verlobten Tolga aber so abweisend behandelt, dass sie später sichtlich in sich zusammenfällt. Die 28-järige Alina, die sich damit rumschlagen muss, dass ihr 27-jähriger Verlobter Ilias vor ihren Augen wiederholt mit einer anderen Kandidatin flirtet, heiratet ihn letztendlich. In der Reunion der Staffel, in der die Kandidat*innen ein Jahr nach Dreh zusammenkommen, nimmt sie dann gegen ihren ausdrücklichen initialen Wille öffentlich den Nachnamen von Ilias an, der das einfach „gängig“ findet – ein solcher Liebesbeweis liegt ihm fern. Diesen Szenen zuzusehen, lässt Zuschauer*innen, die das alles gar nicht so süß finden, immerhin die Rolle eines Fußballkommentators, der zynisch eh schon immer wusste, was gleich passieren wird – Ich hab’s ja gesagt.
Das Phänomen heterosexueller Frauen, die die Unmöglichkeit gleichberechtigter und erfüllender Beziehungen mit Männern beklagen, und trotzdem weder aufgeben noch etwas daran ändern, benannte der Autor Asa Seresin in einem Essay 2019 als Heterofatalismus. Eine Enttäuschung antizipierend, sprechen hetero Frauen oft nur noch mit ironischer Distanz über ihre Beziehungsvorstellungen, schrauben Ansprüche herunter oder verkünden: „Hätte ich eine Wahl, wäre ich lesbisch.“ Studien haben gezeigt, dass romantische Beziehungen für heterosexuelle Männer weitaus profitabler sind als für Frauen – Männer sind abhängiger von Beziehungen, es geht ihnen schlechter ohne und sie verkraften Trennungen schwerer.
Der größte Grund dafür ist, dass Frauen jede Menge unbezahlter Arbeit für Männer übernehmen, auch emotional. Jen, die unterschätzt hatte wie gerne ihr Verlobter Marcel schweigt, versucht immer wieder Gespräche anzufangen und zu ihm durchzudringen, während er einfach – nichts tut. Alberta muss ihrem Date, dem neun Jahre älteren Fabio, in den Pods jedes Wort aus der Nase ziehen, obwohl es er ist, der gerade mit ihr Schluss macht. „Ich will nicht so über Gefühle sprechen, Männlichkeit und so“, erklärt auch Tolga. Das ungebrochene Selbstbewusstsein der LiB-Männer („Ich hoffe, sie ist mein Typ“) gegenüber den Selbstzweifeln der Frauen („Ich hoffe, ich gefalle ihm“) ist angesichts dessen fast schon bewundernswert.
Vielleicht ist Love is Blind eines Tages ein Artefakt einer vergangenen romantischen Fantasie, eines Monogamie-Kinks, vielleicht hilft es fürs erste, sich zu erinnern: Ob Princess Charming, Love Island oder Bachelorette – die Social Media Auftritte der Kandidat*innen zeigen, dass die am Set entstandenen Freundschaften meist weit länger überleben als die Liebesgeschichten. Sich nicht mit diesen Typen abzufinden, heißt nicht, allein zu bleiben.