Evan Vucci via sein ikonisches Trump-Foto: „Ich dachte: Was passiert jetzt?“

Es ist ein Foto, das fast unglaublich wirkt: Sekunden nachdem eine Kugel sein Ohr gestreift hat, steht Donald Trump mit trotzig erhobener Faust da. Der Himmel hinter ihm ist strahlend blau, über ihm weht eine amerikanische Flagge, die in Gänze im Bild ist. Die Gesichter seiner Geheimdienstmitarbeiter sprechen eine klare Sprache, und eine Blutspur zieht sich von Trumps Ohr bis zu seiner Wange.

Das Foto wurde von Evan Vucci aufgenommen, Cheffotograf der Associated Press in Washington. Vucci fotografiert Trump seit dessen Kandidatur vor acht Jahren, 2020 gewann er einen Pulitzer-Preis für ein Foto der Proteste nach dem Tod von George Floyd.

Vucci schildert die Situation so: „Ich hörte die Schüsse. Also rannte ich zur Bühne, als die Agenten des Secret Service begannen, Präsident Trump abzuschirmen. Sie kamen aus allen möglichen Richtungen auf die Bühne und stürzten sich auf ihn. Ich ging nach vorne, an die Seite der Bühne und fing an, alles zu fotografieren, was ich konnte“. Er habe bereits Hunderte von Kundgebungen wie die in Pennsylvania am Sonntag begleitet, sagt er.

Weitere Sicherheitsbeamten trafen ein, erinnert er sich, und vermutlich ein Swat-Team, so sah es aus.

Ich dachte nur: „Mach langsamer, denk nach, komponiere“

„Ich dachte: OK, was wird als Nächstes passieren? Wo wird er hingehen? Wo muss ich sein? Wo muss ich stehen? Was wird passieren?“

„Bei diesem Job geht es vor allem darum, vorausschauend zu sein“, sagt Vucci.

Vucci überlegte, wo die Evakuierungsroute verlaufen würde. Vermutlich auf der anderen Seite der Bühne, auf dem schnellsten Weg zu Trumps SUV. Er positionierte sich an der Treppe nahe der Bühne.

Die Aufgabe der Geheimdienstmitarbeiter ist es, „zu verhindern, dass Trump gesehen wird“, sagt Vucci. Als Trump aufstand, hätten die Agenten immer noch versucht, ihn abzuschirmen, aber Trump „kämpfte sich irgendwie nach vorne“.

Die Tonaufnahmen zeigen, dass Trump, während er von Geheimdienstmitarbeitern umringt war, darum bat, zuerst seine Schuhe zu holen. „OK. Ein Schuh ist da“, sagt ein Agent. „Kommen Sie, holen wir den Schuh.“

Dann sagt Trump: „Wartet, wartet, wartet, wartet.“ Er fasst sich ins Haar, streckt seine rechte Hand durch die von den Geheimdienstagenten gebildete Barriere und hebt die Faust. Grimassen schneidend sagt er: „Kämpft! Kämpft! Kämpft!“.

Vucci sagt, er sei „etwas überrumpelt“ gewesen, als Trump seine Faust hob, aber ihm sei nur eines durch den Kopf gegangen: „Mach langsamer, denk nach, komponiere. Mach langsamer, denk nach, komponiere.“

Vuccis Kamera war mit einem Hotspot verbunden und schickte automatisch Fotos an seinen Redakteur, während er sie aufnahm. „Mach einfach weiter, schick weitere“, sagte sein Redakteur zu ihm.

Die Fotografen mussten in ein Zelt ohne Handyempfang

Nachdem Trump mit dem SUV weggefahren worden war, wurden Vucci und die anderen Fotografen in ein Zelt gebracht, erzählt er. Sie hatten keinen Handyempfang, so dass Vucci das Bild erst etwa 45 Minuten später auf einem leeren Parkplatz zum ersten Mal in den sozialen Medien sah.

Carly Earl, die als Bildredakteurin für den Guardian arbeitet, sagt über Vuccis Aufnahme: „Es gibt einige Fotos, die in der Hitze des Geschehens aufgenommen wurden und plötzlich alles rundherum verlangsamen können. Vuccis ist eines davon.“

Oft wüssten Fotografen, die in einem aktuellen Nachrichtengeschehen arbeiten, gar nicht, dass sie ein perfektes Foto gemacht haben, aber wenn man es als Redakteurin sehe, denke man: „Jackpot“.

Im Fall von Vuccis Foto sei entscheidend, wie das Auge des Betrachters gelenkt wird.

„Es saugt einen förmlich hinein. Man wird ständig von Trumps Gesicht angezogen, aber die Aktion um ihn herum ist wie ein Rahmen“, sagt Earl. Die Komposition sei „fantastisch“.

Die Tiefenschärfe führt dazu, dass alle Gesichter gestochen scharf sind, sagt sie, und so „kann man sich auch mit den Gefühlen der anderen auseinandersetzen, nicht nur mit Trumps“.

Der „Gipfel des Fotojournalismus“?

Der Arm unten rechts im Bild wiederum zeige dem Betrachter, dass um das Bild herum, außerhalb des Blickfelds, etwas passiert, sagt sie. The Atlantic nannte es „unbestreitbar eine der großartigsten Kompositionen in der Geschichte der US-Fotografie“, während eine erfahrene Journalistin der New York Times schrieb, es sei „der Gipfel des Fotojournalismus. Ein perfekt gerahmtes und komponiertes Bild eines historischen Nachrichtenereignisses.“

Wenn man über Politik berichtet, sagt Vucci, „kann jeden Moment etwas Seltsames passieren“.

Aber es gibt auch eine Menge Wiederholungen. „Jeder Tag ist fast gleich: ein Rednerpult, ein Politiker, der spricht. Man versucht also ständig herauszufinden, wie man die Dinge anders machen kann“, sagt er. „Das ist die Millionen-Dollar-Frage in Washington, wenn man über Politik berichtet.“

Vucci hat über die Kriege im Irak und in Afghanistan berichtet – und auch über die Präsidentschaften von Trump und Biden. Auf die Frage, auf welches seiner abertausenden Bilder er am stolzesten ist, lacht er. „Auf das nächste, das nächste“, sagt er.