Europawahl: Die Mitte liegt jetzt ostwärts
Wie wehrhaft ist Europa derzeit? Sollte die EU stärker auf die osteuropäischen Mitgliedstaaten hören? Und drückt sich Deutschland vor seiner Verantwortung? Über diese Fragen möchte ZEIT-Korrespondent Jörg Lau mit ihnen im Kommentarbereich dieses Artikels ins Gespräch kommen.
Der politische Schwerpunkt Europas hat sich in den letzten beiden Jahren nach Osten und Norden verschoben. Der Krieg in der Ukraine ist der offensichtliche Grund dafür. Denn die europäische Friedensordnung wird dort gegen Russlands Aggression verteidigt. Die Linie, an der Russlands Vorstoß eines Tages zum Erliegen kommt, wird die neue Grenze Europas sein.
Aber die innere europäische Ostverschiebung geht darüber hinaus – und das unterscheidet diese Europawahl von allen vorangegangenen. Diese Wahl findet in einem existenziellen Moment statt, in dem Europas Freiheit und Selbstbestimmung von außen und innen bedroht sind wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Und so ist dies die Stunde Zentraleuropas. Für die Länder dieser Region, in der die geopolitischen Erdplatten aufeinanderstoßen, hängt besonders viel an dieser Wahl.
Wie wehrhaft wird Europa? Wie offen sollen seine Grenzen sein? Wer bestimmt die künftige Russlandpolitik? Wird sie wieder von Deutschen, Franzosen und Russen über die Köpfe der Zentraleuropäer hinweg entschieden? Überhaupt: Wie gehen Kleine und Große künftig in diesem Europa miteinander um? Wer setzt die Regeln? Was ist der Raum der Nation in diesem postnationalen Herrschaftssystem?
Das sind die Fragen, die nicht nur Zentraleuropäer bei dieser Wahl umtreiben.
Doch die besondere historische Erfahrung dieser Länder ist heute für ganz Europa relevant. Der tschechische Autor Milan Kundera hat das als Erster geahnt, bereits 1983, als die Sowjetunion noch ein Ding der Ewigkeit schien. In seinem berühmten Essay Der entführte Westen fragte er: „Was ist das, Zentraleuropa? Die unsichere Zone kleiner Nationen zwischen Russland und Deutschland. Ich möchte das unterstreichen: kleine Nation.“
„Ein Hort kleiner Nationen“
Das war nicht nur in Bezug auf Fläche und Bevölkerungsgröße gemeint: „Eine kleine Nation ist jene, deren Existenz in jedem beliebigen Moment in Frage gestellt werden kann, die untergehen und verschwinden kann – und die darum weiß. Ein Franzose, ein Russe, ein Engländer beschäftigt sich gewöhnlich nicht mit Fragen, die das Überleben seiner Nation betreffen. Ihre Nationalhymnen besingen nichts als Größe und Ewigkeit. Die polnische Hymne dagegen beginnt mit der Zeile: ‚Noch ist Polen nicht verloren …‘“
Zentraleuropa war nach Kundera „ein Hort kleiner Nationen“. Das gilt heute für die gesamte EU. Die erneute russische Invasion in der Ukraine hat die zentraleuropäische Sondererfahrung universalisiert. Zugespitzt gesagt gibt es heute in Europa nur noch kleine Nationen – und solche, die es noch nicht gemerkt haben.
Die Souveränität ganz Europas muss neu begründet werden – angesichts des russischen Angriffs, des absehbaren Endes amerikanischer Schutzversprechen und der gefährlichen Abhängigkeit von China. Darum ist der französische Präsident auf Tour mit einer alarmistischen Rede, deren Pointe lautet: „Unser Europa kann sterben.“ Dies ist ein genuin zentraleuropäischer Satz, er hätte von Milan Kundera sein können.
Die Erfahrung einer gefährdeten Souveränität, die historisch immer wieder von den großen Spielern auf dem Kontinent kassiert wurde, erklärt Gemeinsamkeiten zwischen Ländern, die sonst so vieles trennt: Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn.
Die interessantesten Köpfe in der EU sind heute Vertreter dieser kleinen Nationen: der finnische Präsident Alexander Stubb, die estnische Premierministerin Kaja Kallas, der litauische Außenminister Gabrielius Landsbergis, der polnische Premier Donald Tusk, sein ungarischer Konterpart Viktor Orbán und der tschechische Präsident Petr Pavel. Pavel war es, der 700.000 Artilleriegranaten für die Ukraine in aller Welt besorgte, während Deutschland und Frankreich sich ein sinnloses Rededuell über die Frage von Bodentruppen lieferten.
Mit Ausnahme Ungarns liegen alle diese Länder weit vorn bei der Unterstützung der Ukraine (gemessen an der wirtschaftlichen Gesamtleistung). Viele von ihnen hatten lange schon vor der westeuropäischen – besonders der deutschen – Naivität gegenüber Russland gewarnt. Während Deutschland über Kriegstüchtigkeit streitet und nur mit Rechentricks auf Verteidigungsausgaben in Höhe von zwei Prozent kommt, ist Polen bereits bei vier Prozent aufwärts – und das ohne jeden Streit. Das Gefühl der Dringlichkeit, das vielen Deutschen immer noch abgeht, ist hier mit Händen zu greifen. Polen sieht sich, genau wie die drei baltischen Republiken, an einer antizipierten Frontlinie: Wir sind als nächste dran, wenn die Ukraine scheitert. Wenn – wonach es in diesem deutschen Friedenswahlkampf aussieht – die Bundesrepublik weiter keine Anstalten macht, schnell genug wehrhaft zu werden, wird es zwischen den beiden Ländern eine neue Arbeitsteilung geben müssen: Polen verteidigt Europa, Deutschland bezahlt.
Zentraleuropa hat viele Gemeinsamkeiten, aber es ist kein Block. Der Kampf zwischen Autoritarismus und freiheitlicher Demokratie geht mitten hindurch, er markiert Bruchlinien auch zwischen Ländern, die die Erfahrung des russischen Imperialismus teilen.
Polen, die baltischen Staaten und Tschechien sehen den heutigen Kampf der Ukraine gegen Russland als Verlängerung ihrer eigenen Aufstände gegen die Sowjetherrschaft. Viktor Orbán in Ungarn und Robert Fico in der Slowakei haben sich für den Autoritarismus im eigenen Land und für ein Bündnis mit Russland (und China) entschieden. Sie stilisieren die Wahl zur Abstimmung gegen „Brüssel“ und gegen den „Kriegskurs“ der „großen Demokratien“. Beide benutzen das Thema der Souveränität kleiner Länder, um ihre Wähler gegen die EU aufzuputschen, die sie von innen her verändern wollen. Beide sind vehement gegen weitere Waffenlieferungen und natürlich auch gegen den geplanten EU-Beitritt der Ukraine.
Wie wehrhaft ist Europa derzeit? Sollte die EU stärker auf die osteuropäischen Mitgliedstaaten hören? Und drückt sich Deutschland vor seiner Verantwortung? Über diese Fragen möchte ZEIT-Korrespondent Jörg Lau mit ihnen im Kommentarbereich dieses Artikels ins Gespräch kommen.
Der politische Schwerpunkt Europas hat sich in den letzten beiden Jahren nach Osten und Norden verschoben. Der Krieg in der Ukraine ist der offensichtliche Grund dafür. Denn die europäische Friedensordnung wird dort gegen Russlands Aggression verteidigt. Die Linie, an der Russlands Vorstoß eines Tages zum Erliegen kommt, wird die neue Grenze Europas sein.