Europäische Union: Hört hinaus, „proeuropäisch“ zu sagen!

In der Serie „Politisch motiviert“ ergründen unsere Autorinnen und Autoren politische Themen der Woche. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 23/2024.  

Ähnlich wie Menschen haben auch politische Begriffe eine Geschichte, ein Leben. Das Wort proeuropäisch wurde in den 1950er-Jahren geboren. Es erlebte eine aufregende Jugend an der Seite der Pioniere der europäischen Einigung. Proeuropäisch benannte damals treffend jene neue Bewegung, die das tödliche, nationale Gegeneinander auf dem Kontinent durch Zusammenarbeit überwinden wollte. Als es erwachsen wurde, diente das Wort verlässlich dazu, gerade in den Ländern, die (noch) nicht in der EU waren, jenes politische Lager zu identifizieren, das dorthin wollte.

Nun aber, mit rund 70 Jahren, ist es höchste Zeit für die Rente. Wir sollten uns vom Wort proeuropäisch verabschieden. Weil es zum Verständnis der Welt nichts mehr beiträgt und zudem Dinge verunklart, statt sie aufzudecken. Weil es die Auseinandersetzung um die richtige Politik in Europa nicht vorantreibt, sondern ausbremst.

Denn erstens gibt es, abgesehen von Ländern wie Georgien, kaum noch politische Kräfte oder größere Bevölkerungsteile, die im Grundsatz gegen Europa oder die EU sind. Selbst das Lager um Ungarns rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán möchte ja aus der Union, die dieses ständig beschimpft, nicht austreten. Weil man seit Jahrzehnten die Verwechslung von Europa und EU eingeübt hat, von Institution und Ideal, kann Orbán als Proeuropäer auftreten, auch wenn es ihm nur um die Brüsseler Geldtöpfe geht.

Das ist der zweite Grund, der gegen den Begriff spricht: Wer „proeuropäisch“ sagt, tabuisiert damit auch Kritik an konkreter EU-Politik. In der Finanzkrise galt der griechische Widerstand gegen die Brüsseler Sparvorgaben schnell als antieuropäisch. Und wer darauf hinweist, auf welch intransparente Weise oft auch noch nicht abwählbare Funktionäre in Brüssel Entscheidungen für alle Europäer treffen, steht auch heute noch schnell unter Verdacht, das schöne europäische Projekt kaputt machen zu wollen.

Konkrete Kritik statt pauschale Solidarität

Proeuropäisch fordert eine pauschale Solidarität mit dem politischen Gebilde EU ein – egal, was dieses Gebilde konkret politisch anrichtet. In dem Begriff schwingt stets mit, man müsse die EU um ihrer selbst willen gut finden, er sieht nicht die konkreten politischen Institutionen und ihre Praxis, sondern nur den hehren Gedanken der friedlichen europäischen Integration. Diese Verwechslung fiel in Deutschland besonders leicht, weil Brüssel ja tatsächlich oft das machte, was Berlin wollte.

Gerade nach dieser Wahl wird es aber weniger pauschale EU-Begeisterung brauchen und mehr präzise, auch scharfe Kritik. Jetzt, da die Rechten um die italienische Postfaschistin Giorgia Meloni sich anschicken, den Kurs zu bestimmen, und sich auch die Gewichte im EU-Parlament verschieben. Diese Rechten wollen ja die EU gerade nicht mehr zerstören, sondern sie zur Wagenburg im Kampf der Kulturen umbauen. 

Bald könnte der Widerstand gegen und die Kritik an Brüssel gerade für progressive Kräfte zur moralischen Notwendigkeit werden. Mit dem Wort proeuropäisch kommt man den Rechten aber nicht mehr bei, wenn die EU längst nach ihrem Willen tickt. Das Wort steht eher hinderlich im Weg herum, man muss es meiden, um in der Sache noch weiterzukommen. Es hatte seine Zeit, aber nun wird es nicht mehr gebraucht.