Europäische Union: Die „Festung Europa“ gibt es nicht
Man kann darauf wetten: Immer, wenn die Europäische Union über ihre Asyl- und Migrationspolitik berät, wird anschließend die „Festung Europa“ beklagt. So war es auch nach dem jüngsten EU-Gipfel vergangene Woche. „Die Festung Europa ist zurück“, behauptete das Onlineportal Politico. Die Süddeutsche Zeitung versah ihre Überschrift zumindest mit einem Fragezeichen: „Auf dem Weg zur Festung Europa?“
Der Vorwurf, die Europäische Union schotte sich ab und lasse niemanden mehr herein, ist ziemlich alt. Er wurde schon erhoben, bevor die Union überhaupt anfing, ernsthaft über eine gemeinsame Migrationspolitik und ihren Grenzschutz zu diskutieren. Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Festung Europa“ in diesem Sinne in den Neunzigerjahren auf. Seitdem haben Flüchtlingsorganisationen, Politikerinnen und Journalisten den Begriff endlos wiederholt. Wahrscheinlich habe ich selbst früher auch von der „Festung“ geschrieben. Einige Landeszentralen für politische Bildung haben sogar einmal ein Planspiel unter diesem Titel veröffentlicht – um die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU besser verständlich zu machen.
Aber eine Metapher wird nicht besser dadurch, dass sie ständig wiederholt wird. Ein paar Zahlen: In den 26 Ländern der Europäischen Union leben mehr als 27 Millionen Menschen, die keine EU-Bürgerinnen oder EU-Bürger sind. Mehr als fünf Millionen Menschen sind alleine 2022 aus Nicht-EU-Ländern in die Union immigriert; seit 2015 liegt diese Zahl konstant über 2 Millionen, selbst in den Jahren der Pandemie. Sieht so eine Festung aus?
Die Schuld an den toten Geflüchteten tragen andere
Um Missverständnisse zu vermeiden: Was an den Außengrenzen der Europäischen Union geschieht, ist oft schrecklich. Mehr als 30.000 Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen wollten, werden seit 2014 nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration vermisst. Und über die fürchterliche Situation an der Grenze zwischen Polen und Belarus hat die polnische Regisseurin Agnieszka Holland einen bewegenden Film gedreht (Green Border), er wurde zu Beginn des Jahres in den Kinos gezeigt. Seitdem hat sich die Lage dort noch einmal zugespitzt. Keine Frage, an ihren Außengrenzen trägt die Europäische Union eine humanitäre Verantwortung, der sie oft nicht gerecht wird. Aber die Schuld an den Toten tragen in der Regel andere. Jene, die mit dem Leid und der Not von Flüchtenden und Migranten Geschäfte oder Politik machen, Schlepper und Diktatoren.
Ist Deutschland eine Festung? Oder Schweden? Hat man Frankreich jemals den Vorwurf gemacht, dass das Land seine Grenzen schützt? Oder Spanien? Warum wirft man den Nationalstaaten nicht vor, was man der EU lange Zeit vorgehalten hat und immer noch vorhält – dass sie versucht zu kontrollieren, wer ihr Territorium betritt, und gegebenenfalls Menschen zurückweist? Die Europäische Union hat erst spät begonnen, sich über ihre Außengrenzen Gedanken zu machen. Frontex, die Agentur für Grenz- und Küstenwache, wurde zwar schon 2004 gegründet, fristete aber bis vor wenigen Jahren ein Nischendasein. Im Rückblick wundert man sich über die Grenzvergessenheit, die das europäische Einigungswerk lange Zeit begleitete. Als wäre Europa nur eine Idee gewesen und kein geografischer Raum.
Eine Million Asylanträge im letzten Jahr
Noch ein paar Zahlen. In Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamtes knapp 14 Millionen Menschen, die keinen deutschen Pass haben. Die Zahl der Ausländerinnen und Ausländer hat sich seit 2011, in nicht einmal anderthalb Jahrzehnten also, verdoppelt. Von diesen 14 Millionen Menschen kommen 1,2 Millionen aus der Ukraine, eine knappe Million aus Syrien, rund 400.000 aus Afghanistan – alles Länder außerhalb der Europäischen Union. Und wahrscheinlich werden weitere hinzukommen. Allein im vergangenen Jahr haben in der EU erneut mehr als eine Million Menschen einen Asylantrag gestellt. Falls Europa jemals eine Festung war, hat also irgendetwas nicht geklappt.
Sind eine Million Asylanträge viel? In einem Staatenbund, der insgesamt fast 450 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner zählt? Darüber kann man streiten. Genauso wie über die Frage, ob die Maßnahmen, die die EU nun diskutiert, um gegen illegale Migration vorzugehen – Abschiebezentren in Albanien zum Beispiel – zu hart sind oder noch immer nicht hart genug. Man sollte in dieser Diskussion aber auf die Worte achten und die Bilder, die man aufruft. Die Europäische Union ist keine Festung, sie ist es nie gewesen. Und ziemlich sicher wird sie es auch niemals werden.
Man kann darauf wetten: Immer, wenn die Europäische Union über ihre Asyl- und Migrationspolitik berät, wird anschließend die „Festung Europa“ beklagt. So war es auch nach dem jüngsten EU-Gipfel vergangene Woche. „Die Festung Europa ist zurück“, behauptete das Onlineportal Politico. Die Süddeutsche Zeitung versah ihre Überschrift zumindest mit einem Fragezeichen: „Auf dem Weg zur Festung Europa?“
Der Vorwurf, die Europäische Union schotte sich ab und lasse niemanden mehr herein, ist ziemlich alt. Er wurde schon erhoben, bevor die Union überhaupt anfing, ernsthaft über eine gemeinsame Migrationspolitik und ihren Grenzschutz zu diskutieren. Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Festung Europa“ in diesem Sinne in den Neunzigerjahren auf. Seitdem haben Flüchtlingsorganisationen, Politikerinnen und Journalisten den Begriff endlos wiederholt. Wahrscheinlich habe ich selbst früher auch von der „Festung“ geschrieben. Einige Landeszentralen für politische Bildung haben sogar einmal ein Planspiel unter diesem Titel veröffentlicht – um die Asyl- und Flüchtlingspolitik der EU besser verständlich zu machen.