Europäische Sicherheit ohne Amerika
Donald Trump und Wladimir Putin lassen die Europäische Union und das Vereinigte Königreich wieder zusammenrücken. Erstmals seit dem Brexit wird mit Keir Starmer wieder ein britischer Premierminister am Tisch sitzen, wenn die 27 EU-Staats- und Regierungschefs im Februar zu einem Sondertreffen zusammenkommen. Das Thema: Wie soll Europa sich künftig verteidigen, angesichts von Putins Angriffskrieg in der Ukraine und angesichts eines amerikanischen Präsidenten, der offen mit einem Rückzug der Vereinigten Staaten aus Europa droht?
Es ist eine Debatte mit vielen Unbekannten. Unklar ist vor allem, wieweit Trump die amerikanische Militärpräsenz in Europa zurückschneiden wird und wieweit Europa im Rahmen des nordatlantischen Verteidigungspakts NATO auf sich allein gestellt sein wird. Die Kernfrage für die Europäer ist, ob sie entstehende Lücken schließen können.
Viele europäische Staaten haben seit dem Ende des Kalten Krieges auf den amerikanischen Sicherheitsschirm vertraut und ihre Verteidigungsbudgets reduziert. Man sprach von Friedensdividende, was sich im Nachhinein als Trugschluss herausgestellt hat. Besonders deutlich wirkte sich das auf die Zahl der aktiven Soldaten aus. Die Vereinigten Staaten stellen derzeit rund 38 Prozent der 3,4 Millionen NATO-Streitkräfte. Sie haben in den vergangenen dreißig Jahren die Zahl ihrer Soldaten von 1,7 Millionen auf 1,4 Millionen reduziert. Deutschland und Frankreich dagegen haben die Truppenstärke in etwa halbiert, von je 400.000 auf 180.000 und 200.000 Soldaten. Innerhalb der NATO haben nach Angaben des International Institute for Strategic Studies (IISS) nur die baltischen Staaten seit 1994 ihre Truppenstärke erhöht.
Viele Europäer hängen von amerikanischen Waffensystemen ab
Ökonomisch schwerer wiegt, dass viele der europäischen Staaten sich auch auf amerikanische Waffensysteme verlassen haben. Mehr als die Hälfte der rund 2000 Kampfflugzeuge, die Europa in die NATO einbringt, sind amerikanischen Typs, F-35 oder F-16 etwa. Solche Abhängigkeiten von amerikanischer Waffentechnik lassen sich nicht von heute auf morgen aufheben. Die F-35, die der europäischen Konkurrenz die Tarnkappenfähigkeit voraushat, wird nur von amerikanischen Herstellern produziert.
Diese Abhängigkeit gilt generell für moderne Aufklärungssysteme wie Satelliten und Flugzeuge für die Luftüberwachung, aber auch für Tankflugzeuge und Drohnen. Sie werden in der Militärsprache als „Strategic Enabler“ bezeichnet, als Systeme, die Kampfeinsätze erst ermöglichen. Diese Systeme profitieren alle vom amerikanischen Vorsprung bei Künstlicher Intelligenz, Software und Datennutzung. „Europa hat derzeit kaum Kapazitäten für Trägerraketen, um Satelliten ins All zu befördern“, macht Roberto Cingolani, der Vorstandsvorsitzende des italienischen Rüstungskonzerns Leonardo, auf eine andere Schwachstelle aufmerksam. Auch deshalb hinkt Europa einem System niedrig fliegender Telekomsatelliten, wie es der amerikanische Unternehmer Elon Musk mit Starlink aufgebaut hat, hinterher. Fast vollständig hängen die Europäer von amerikanischem Gerät für Truppenbewegungen und Waffentransport ab, vor allem vom Transportflugzeug C-17.
Europa braucht eigene Kapazitäten für Rüstungsgüter
Selbst wenn Amerika unter Trump weiter liefern wolle, werde die hohe europäische Importquote sich nicht mehr aufrechterhalten lassen, befindet der Ökonom Guntram Wolff von der Freien Universität Brüssel. Das gelte besonders für Waffengattungen, die ausschließlich in den Vereinigten Staaten hergestellt würden. „Das ist gar keine Frage des Wollens, sondern eine Frage der Kapazitäten.“ Amerika brauche diese Kapazitäten künftig selbst, vor allem wegen China.
Die asiatische Supermacht ist der Grund dafür, dass der Rückzug der USA aus Europa schon lange vor Trump begann. Auch der Krieg in der Ukraine hat in Amerika nicht mehr oberste Priorität. Für das Haushaltsjahr 2024 habe das Pentagon 3,6 Milliarden Dollar für die European Deterrence Initiative reserviert, während die Pacific Deterrence Initiative 14,7 Milliarden Dollar erhalten habe, erläutert Camille Grand vom Council on Foreign Relations in New York.
An strategische Systeme aus Amerika dürften die Europäer künftig eher schwerer gelangen. Sie müssen auch die Produktionskapazität für jene Waffen ausweiten, die schon bisher in Europa hergestellt wurden. Das betrifft vor allem klassisches Kriegsgerät wie Panzer, Artillerie, Kriegsschiffe oder Kampfflugzeuge. Im Prinzip sieht es da besser aus. So lassen die Bundeswehr und andere europäische Streitkräfte seit Jahrzehnten eigene Kampfjets bauen, anstatt wie früher in Amerika zu kaufen. Die europäischen Projekte fingen mit dem Tornado an und setzten sich mit dem Eurofighter bis heute fort. Bei den Transportfliegern hat Europa sich zum Bau des A400M zusammengefunden. Fünf europäische Staaten – das Vereinigte Königreich, Deutschland, Italien, Spanien und Österreich – haben zusammen knapp 500 Eurofighter im Bestand, sieben Staaten verfügen über insgesamt 120 A400M.
Langes Warten auf europäische Kampfjets
Als Kampfjets der neuen Generation sind in Europa die Systeme FCAS (Deutschland, Frankreich und Spanien) sowie GCAP (Großbritannien, Italien und Japan) geplant. Bis zu ihrer Einsatzfähigkeit wird es aber noch viele Jahre dauern. Die Lücke schließt derzeit der amerikanische Kampfjet F-35. Ein gutes Dutzend europäischer Nationen, darunter die Deutschen, Briten und Italiener, fliegen die Maschine von Lockheed-Martin . „Die Zusammenarbeit beim Eurofighter funktioniert sehr gut, es ist ein gutes Flugzeug, das immer wieder modernisiert wird“, sagt Leonardo-Chef Cingolani. „Doch die vielseitige F-35 könnte derzeit nicht ersetzt werden.“
Leonardo baut wie mindestens ein halbes Dutzend europäischer Hersteller am Eurofighter und an der F-35 mit. Die Endmontage für die europäischen Kunden findet im norditalienischen Cameri in Zusammenarbeit mit Leonardo statt.
Solche Verflechtungen existieren auch in die andere Richtung. Selbst der ureuropäische Eurofighter enthält amerikanische Teile. Zulieferer aus den USA liefern Messsysteme, Sensoren, Satellitennavigationssysteme, Technik zur Zielidentifizierung und zur Zielführung von Raketen. Auch Displays für die Cockpits kommen teils aus Amerika.
17 verschiedene Typen von Panzern in Europa
In der Panzerproduktion kann Europa den deutschen Leopard vorzeigen, der erfolgreich in viele Länder exportiert wird. KMW aus Deutschland und Nexter aus Frankreich arbeiten im Panzerbau zusammen. Rheinmetall hat sich kürzlich mit Leonardo für ein künftiges Konkurrenzmodell verbündet.
Doch auch wenn Teile der hiesigen Rüstungsindustrie gut aufgestellt sind, der Gesamtmarkt ist es nicht. Europa hat viel mehr – und in der Regel inkompatible – Waffensysteme der gleichen Art als die Amerikaner. „Es ist Verschwendung, dass es in Europa 17 Panzertypen gibt und nicht wie in den USA nur einen“, sagte Airbus -Chef Guillaume Faury der F.A.Z. Die US-Armee habe 4500 Hubschrauber mit nur vier Typen. Deutschland oder Frankreich hätten dagegen je zehn Typen, obwohl ihre Hubschrauberflotten zehnmal kleiner seien als die amerikanische. Frank Haun, Chef des deutsch-französischen Panzerbauers KNDS , erinnert an das Patrouillenfahrzeug Dingo. Dieses existiere in etlichen Versionen mit gleichem Namen und Aussehen, aber jeweils unterschiedlichen Bauteilen, die jeweils eine separate Ersatzteilkette brauchen. Mehr Standardisierung führe zu mehr Interoperabilität, zu mehr Kampfkraft und Abschreckung.
Seit 2021 haben die EU-Staaten insgesamt die Verteidigungsausgaben um etwa 30 Prozent gesteigert. In diesem Jahr werden die Ausgaben etwa 329 Milliarden Euro erreicht haben. Das entspricht 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und liegt nah am NATO-Ziel von zwei Prozent. Doch nur die „Frontstaaten“ Polen und Estland übertreffen die amerikanischen Ausgaben von mehr als drei Prozent des BIP.
Die Hürde eines höheren Verteidigungsbudgets
Höhere Verteidigungsausgaben seien aber nicht allein entscheidend, sagt Ökonom Wolff. Europa müsse nicht nur schnell seine eigenen Kapazitäten steigern, sondern auch das Geld für Rüstungsgüter effizienter ausgeben. „Das bedeutet nicht zuletzt die Bündelung der Einkaufsmacht durch gemeinsame Beschaffung.“ Speziell müsse Europa auch ukrainische Rüstungsbetriebe in die Beschaffung einbeziehen. „Sie produzieren erheblich kostengünstiger und oft in der Qualität nicht schlechter als die deutschen oder französischen Unternehmen.“
Wie die gemeinsame Beschaffung sich organisieren ließe, ist umstritten. Sie stößt auf eine Vielzahl spezieller nationaler Interessen, unter denen jene der beiden Atommächte Großbritannien und Frankreich herausragen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich gerade Frankreich auf eine gemeinsame Beschaffung einließe. Frankreich ist traditionell stärker auf Souveränität und Unabhängigkeit von den USA bedacht als Deutschland, Italien und Großbritannien. Für Schlüsseltechnologien wie Kampfjets verlässt Paris sich nicht auf die Amerikaner, sondern hat mit Modellen wie Mirage und Rafale stets eigene Produkte entwickelt.
Wie ein Elefant im Raum beherrscht derweil jede Brüsseler Diskussion die Frage, wie die zusätzlichen Rüstungsausgaben finanziert werden sollen. Wolff plädiert für eine Art Rüstungsindustriepolitik unter dem Dach der EU, die dann mit den Briten nur zusammenarbeiten würde. Pläne für einen mit gemeinsamen Schulden finanzierten Verteidigungsfonds von 500 Milliarden Euro kursieren in Brüssel schon länger.
Der Ruf nach gemeinsamen Schulden
Eine gemeinsame Schuldenfinanzierung könnte etwas wahrscheinlicher werden, weil traditionelle Gegner neuer EU-Schulden wie Schweden, Dänemark und die baltischen Staaten europäischen „Verteidigungsbonds“ sehr wohl etwas abgewinnen können. Bevor eine neue Bundesregierung im Amt ist, wird indes nichts entschieden. Wolff hatte in der F.A.Z. mit Kollegen eine Reform der Schuldenbremse für mehr Verteidigungsausgaben gefordert. Er hält auch EU-Schulden für angemessen. „Finanziert werden können die zusätzlichen Rüstungsgüter nicht nur aus einer Quelle.“
Aufrüstung unter der Fahne der EU hält Sven Biscop, Politologe an der Universität Gent, für nicht realistisch. „Die Mitgliedstaaten wollen keine EU-Strukturen“, sagt Biscop. „Ein starker europäischer Pfeiler in der NATO ist realitätsnäher. Aber die offenen Punkte, vor allem die gemeinsame Beschaffung und die Finanzierung, bleiben natürlich dieselben.“ Für beide sehe er noch keine Lösung, egal ob inner- oder außerhalb der EU: „Ich erkenne noch nicht, dass die europäischen NATO-Staaten in der Lage wären, gemeinsame Interessen zu definieren und danach zu handeln.“
Damit zusammen hängt eine große Schwierigkeit, sollte Amerika der NATO den Rücken kehren. Die Kommandostruktur des Militärbündnisses war bisher komplett auf die Vereinigten Staaten ausgerichtet. Die Frage, wer in einer NATO ohne die USA das Kommando übernähme, birgt großes Konfliktpotential. Die meisten europäischen Regierungen wollten so viele nationale Fähigkeiten und Handlungsfreiheit wie möglich erhalten, kritisiert Trevor Taylor vom Royal United Services Institute (RUSI) in London. „Die Schaffung kollektiver Stärke aus nationalen Streitkräften und vielen nationalen Unternehmen ist also eine Frage des politischen Willens.“