ESC-Finale 2024: Schwedische Computerfantasien – und ist dasjenige etwa Madonna?
Bis zum zweiten Halbfinale am Donnerstagabend sah es fast so aus, als würde der Konflikt zwischen Israel und Palästina, der im Vorfeld die Berichterstattung zum diesjährigen ESC in Malmö dominiert hatte (Soll Israel ausgeschlossen werden? Werden andere Länder den Contest boykottieren?), in den Hintergrund rücken und der ESC könnte zum Business as usual übergehen.
Doch im Laufe der Woche nahmen die Proteste an U-Bahn-Stationen und vor der Arena in Malmö stetig zu – Malmö hat die größte palästinensische Bevölkerung in Schweden – bis es dann am Donnerstagabend vor dem Auftritt Israels beim zweiten Halbfinale zum bisher größten Protestmarsch mit ca. 10.000 Teilnehmenden kam, darunter Greta Thunberg – übrigens die Tochter der schwedischen ESC-Teilnehmerin von 2009.
Die israelische Sängerin Eden Golan, die in der ESC-Woche kaum ihr Hotelzimmer verlassen hatte, schaffte die Qualifikation fürs Finale. Die Buhrufe, die in der Halle deutlich zu hören waren, wurden für die Fernsehübertragung weggefiltert und Israel rückte bei den Wettbüros prompt auf Platz 2 für das Finale am Samstag auf.
Könnte es sein, dass Israel dieses Jahr den Contest gewinnt? Schließlich kann man beim Televoting ja nicht gegen Israel stimmen. Auf einmal dominiert der Konflikt die Stimmung vor Ort, Leute streiten sich lauthals im Zug, der Kopenhagen mit Malmö verbindet, oder geben ihre Tickets für das Finale am Samstag zurück. Am Freitag bei einer von drei Generalproben für das Finale ist der niederländische Sänger Joost nicht erschienen. Noch ist unklar, was genau passiert ist, aber es scheint wahrscheinlich, dass es einen Zusammenhang zum Auftritt Israels gibt. In der Reihenfolge beim Finale am Samstag sollen die Niederlande direkt vor Israel auf der Bühne singen.
Egal, welche Position man in den Fragen zum Konflikt zwischen Israel und Palästina vertritt, die Stimmung in Malmö ist mies und überlagert gerade alles. Teil der Frustration ist natürlich auch, dass der Contest dieses Jahr unwillkürlich diese Fragen aufwirft, aber zugleich überhaupt keine angemessenen Foren bietet, damit umzugehen. Alle reden über Israel und Palästina und gleichzeitig gibt es bei diesem Musikfestival über die kurzen Pressekonferenzen hinaus keine Diskussionsveranstaltung, kein Rahmenprogramm, das die Konflikte in irgendeiner Weise adressieren oder auffangen könnte. Die beiden akademischen Konferenzen, die diese Woche hier an der Universität in Malmö stattfanden, waren ein erster Versuch darauf zu reagieren.
Die Veranstalter des ESC hoffen, dass die nächsten Stunden mehr oder weniger reibungslos über die Bühne gehen. Viele der Fans vor Ort fühlen sich überfordert und sind orientierungslos. Einige von ihnen bleiben am Finalabend lieber in ihrem Hotelzimmer.
Diese 26 Acts stehen im ESC-Finale 2024
1. Schweden: Marcus & Martinus – „Unforgettable“
Klingt so, als sei die KI mit dem Auftrag gefüttert worden, einen schwedischen Eurovisions-Song zu schreiben. Forgettable – wären da nicht die süßen norwegischen Zwillingsbrüder Marcus und Martinus, die die Computerfantasie dieses Jahr für Schweden auf die Bühne bringen. Oder sind die beiden auch nicht echt? (Chancen: Platz 6-15)
2. Ukraine: Alyona Alyona & Jerry Heil – „Teresa & Maria“
Schon vor der russischen Invasion und den Solidaritätsbekundungen, die daraus folgten, gehörte die Ukraine neben Italien und Schweden in den letzten zehn Jahren zu den erfolgreichsten Ländern beim ESC. Daran wird auch der christliche Kitsch von Alyona und Jerry dieses Jahr nichts ändern. (Chancen: Platz 3-8)
3. Deutschland: Isaak – „Always On The Run“
Kritik am deutschen Vorentscheid gab es schon viel, aber der NDR macht hartnäckig immer weiter, als sei nichts gewesen. Jetzt steht Isaak für Deutschland auf der Bühne und verdient erstmal unsere volle Unterstützung für Samstagabend. (Chancen: Platz 16-26)
4. Luxemburg: Tali – „Fighter“
Nach über 30 Jahren Pause hat sich Luxemburg, eines der großen Länder des Eurovision Song Contests der 1960er und 1970er, als dieser noch „Grand Prix“ genannt wurde, entschieden wieder dabei zu sein. Das Comeback ist nicht so phänomenal wie Italiens Rückkehr vor über zehn Jahren, aber im Vergleich schneidet Tali gar nicht so schlecht ab. (Chancen: Platz 12-22)
5. Niederlande: Joost Klein – „Europapa“
Eurovision ist Trash, und Europa der Stoff für Klamauk, Joost muss dafür nur mit der letzten Silbe von „Euro-pa“ herumspielen, „Euro-pa-pa-pa“ … Dazu ein paar Textzeilen auf Deutsch, Italienisch usw. Europäische Verbundenheit als Slapstick-Nummer. Albern und liebenswert. (Chancen: Platz 5-15)
6. Israel: Eden Golan – „Hurricane“
Trotz aller Proteste, Israel ist dabei und singt die schönste Ballade des Abends. Ziemlich 1990s Celine-Dion-mäßig, während die Bühne in die israelischen Nationalfarben weiß-blau getaucht ist. (Chancen: Platz 2-10)
7. Litauen: Silvester Belt – „Luktelk“
Junge dünne Männer (im Schwulensprech „Twinks“) gibt es in diesem Jahr auf der ESC-Bühne reichlich zu sehen. Luktelk geht gut uns Ohr, Silvester Belt ist neben seinen Peers Olly Alexander, Nemo und Baby Lasagna dann aber doch etwas zu brav. (Chancen: Platz 10-18)
8. Spanien: Nebulossa – „Zorra“
Die Sängerin Nebulosa stolziert drei Minuten wie eine pensionierte Almodovar-Diva über die Bühne und wird dabei von jungen Männern in Korsagen und Lackstiefeln unterstützt, die die eigentliche Arbeit machen. Oder ist Madonna nach dem Abschiedskonzert ihrer Celebration-Tournee in Rio noch einmal kurz auf die ESC-Bühne zurückgekehrt? Mehr Camp geht nicht. (Chancen: Platz 13-26)
9. Estland: 5 miinust x Puuluup – „(nendest) narkootikumidewst ei tea me (küll) midagi“
Als hätten ein paar Typen hinter der Bühne spontan entschieden, eine Umbaupause für ihren kurzen Auftritt zu nutzen. Männerbündlerische Gesänge und Tanzeinlagen. Die straighten Jungs sollen ja auch ihren Spaß haben. (Chancen: Platz: 10-22)
10. Irland: Bambie Thug – „Doomsday Blue“
Zur Hälfte Bruce LaBruce Zombie-Porn, zur anderen Schwanensee. Das Ergebnis ist spektakulär und die Kameraarbeit übertrifft alles, was wir bisher beim ESC gesehen haben. Sind die Jurys und das Fernsehpublikum so experimentierfreudig, dass sie Bamby Thug zum Sieg verhelfen? Dann würde Irland mit insgesamt acht Siegen beim ESC in der Gesamttabelle wieder an Schweden vorbeiziehen (Chancen: Platz 1-9)
11. Lettland: Dons – „Hollow“
Der Mann hat eine schöne Stimme, aber das Lied tritt schon nach kurzer Zeit auf der Stelle und die Bühne ist auf unironische Art und Weise aus den 1970ern. Wie Latvia es dieses Jahr ins Finale geschafft hat, bleibt eines der großen Rätsel des Abends. (Chancen: Platz: 18-26)
12. Griechenland: Marina Satti – „Zári“
Seit Helena Paparizous Sieg 2005 liefert Griechenland immer wieder Updates des Gewinnerlieds von damals, dem Ethno-Dance-Song mit dem programmatischen Titel My Number One. Dieses Jahr ist Marina Satti ziemlich dicht dran am aktuellen Reggaeton-Hype um Latino-Pop Sängerinnen wie Rosalia, natürlich griechisch gewürzt (Chancen: Platz 5-12)
13. Großbritannien: Olly Alexander – „Dizzy“
Olly Alexander war als Pop- und Fernsehstar (It’s a Sin) schon lange vor dem ESC berühmt. Queerness ist bei ihm kein Subtext, sondern der Schlüssel zum Erfolg. Die Choreografie mit fünf halbnackten Männern unter der Dusche ist im Prinzip ein schwuler Porno. (Chancen: Platz 6-16)
14. Norwegen: Gåte – „Ulveham“
Wie Georgien, eine Bild- und Ton-Landschaft für drei Minuten. Klingt irgendwie schön, aber auch wie die letzten drei Minuten eines Liedes, das wir selber gar nicht zu hören gekriegt haben. (Chancen: Platz 12-20)
15. Italien: Angelina Mango – „Lai noia“
Italien schickt die größten Talente seiner nationalen Popszene zum ESC und ist damit auch international sehr erfolgreich. Angelina ist bezaubernd auf der Bühne, wunderschön, kann singen und tanzen und wäre eigentlich eine mögliche Gewinnerin. Nur die Idee, sie und ihre Begleiterinnen durch florale Muster auf Kostümen und LED-Hintergrund zu einem Gesamtgewächs zu verflechten geht leider nicht auf. (Chancen: Platz 5-13)
16. Serbien: Teya Dora – „Ramonda“
Serbien verdanken wir einige der ikonischsten ESC-Momente. Nicht nur den Gewinnertitel von 2007 Molitva, sondern auch die Wasch-Performance In Corpore Sano von der Künstlerin Konstrukta 2022 (Platz 5). Der diesjährige Titel hat diesen Wiedererkennungswert nicht, auch wenn die visuellen Effekte voll ausgereizt werden. (Chancen: Platz 18-26)
17. Finnland: Windows95man – „No Rules!“
Finnland macht weiter mit seinen Gimmick-Songs. Diesmal mit einem zotteligen Mann auf der Bühne, dessen fleischfarbene Strumpfhose suggerieren, er würde unten ohne rumlaufen. Funny, those Fins! (Chancen: Platz 16-26)
18. Portugal: Iolanda – „Grito“
Portugal gehört zu den Ländern, die sich weigern, globale Poptrends mitzumachen und nicht nur weiterhin Lieder auf Portugiesisch zum ESC schicken, sondern auch immer wieder auf eigene Musiktraditionen wie Fado zurückgreifen. Dafür sind sie vor ein paar Jahren sogar mit dem ersten Platz belohnt worden. Auch wenn Grito weniger eingängig ist, freut man sich, dass die Portugiesen es ins Finale geschafft haben. (Chancen: Platz 13-25)
19. Armenien: Ladaniva – „Jako“
Folklore macht fast keiner mehr beim ESC. Ladaniva bringt dankenswerterweise noch einmal in Erinnerung, wie sehr sich der ESC immer auch nationaler und regionaler Trends bedient hat, bevor der globalisierte Schwedenpop nicht nur bei schwedischen Beiträgen das Zepter in die Hand nahm. Selbst wenn Musik und Tanz auf der Bühne mit Armenien gar nichts zu tun haben. Dafür sollten sie belohnt werden. (Chancen: Platz 11-20)
20. Zypern: Silia Kapsis – „Liar“
Zypern leidet unter dem Eleni-Trauma. Vor sechs Jahren gewann das kleine Land mit Fuego beinahe den ESC und wurde am Ende doch von Israel geschlagen. Liar versucht an diesen Erfolg anzuknüpfen, aber so einfach funktioniert das auch beim ESC nicht. (Chancen: Platz 16- 26)
21. Schweiz: Nemo – „The Code“
Popoper und Dance-Hit in einem. Nemo ist ein Riesentalent, Stimm- und Körperakrobatik auf einer einfachen aber genial genutzten Drehbühne. Für Non-Binarität und Rüschenkleid gibts nochmal extra Aufmerksamkeit. Dieses Jahr könnte es klappen mit dem Sieg für die Schweiz. (Chancen: Platz 1-4)
22. Slovenien: Raiven – „Veronika“
Eine ganze Reihe von Songs verwandeln dieses Jahr die Bühne in eine mystische Nebel- und Wolkenlandschaft, so auch Veronika, begleitet von Tänzerinnen, die auch gut als Statistinnen in einer Folge von Herr der Ringe oder Game of Thrones gepasst hätten. Trotz hohem Produktionsaufwand nicht sehr effektvoll. (Chancen: Platz 16-26)
23. Kroatien: „Baby Lasagna – Rim Tim Tagi Dim“
Baby Lasagna ist Favorit bei Wettbüros und Fan-Websites. Rim Tim Tagi Dim versucht den Erfolg von Cha Cha Cha aus Finnland letztes Jahr zu wiederholen (Platz 1 Televoting, Platz 2 Gesamtwertung) und ist dabei etwas mainstreamiger geraten. Ein blonder Pirat stampft über die Bühne, martialisch und paranoid: männlicher Exzess als catchige Nummer zum Mithopsen. (Chancen: Platz: 1-7)
24. Georgien: Nuza Busaladse – „Fire Fighter“
Georgien klingt dieses Jahr wie die Zusammenfassung von 20 Eurovisionssongs, die man schonmal gesehen hat. Während altmodischerweise oft behauptet wird, es würde beim ESC doch um die Musik gehen, beweist Georgia hier das Gegenteil. Alles Kulisse, Bewegung, Effekte. (Chancen: Platz: 14-24)
25. Frankreich: Slimane – „Mon amour“
Wenn Liebeskummer so klingt, möchte man, dass er nie mehr aufhört. Slimane hat eine herzzerreißende Stimme, und drückt noch mal ordentlich auf die Tränendrüse, wenn er ein paar Schritte vom Mikrophon weggeht, um zu beweisen, dass er auch ohne elektronische Verstärkung in der ganzen Halle zu hören ist. Unser Demis Roussous für das 21. Jahrhundert. (Chancen: Platz 1-12)
26. Österreich: Kaleen – „We Will Rave“
Nicht nur Rave-Beats, sondern die Rave-Referenz gleich auch noch im Titel, für alle, die es sonst nicht mitgekriegt hätten. Schlichtheit, die schon in drei Minuten auffällt, aber der David-Guetta-Sound wird von den Fans dankbar angenommen und Kaleen lächelt so reizend dazu, das man es ihr nicht weiter übel nehmen kann. (Chancen: Platz 13-23)