ESC-Boykott wegen Israel-Teilnahme? Es ist nicht Netanjahu, welcher hier singt

Wegen der Teilnahme Israels wollen Spanien, Irland und andere den Eurovision Song Contest boykottieren. Unser Autor hält das für keine gute Idee. Allein schon deshalb, weil der ESC für ihn ein Friedensprojekt ist


Beim ESC 2025 in Basel ist Israel auf dem zweiten Platz gelandet

Foto: Jessica Gow/TT/Imago Images


Momente europäischer Krisen gibt es im politischen Alltag genug. Momente, in denen Europa wenigstens überhaupt mal als eine Einheit wahrgenommen wird, hingegen so gut wie gar nicht. Der Eurovision Song Contest (ESC) ist so eine Gelegenheit. Hier kann man erleben, was die politische Verwaltung in Brüssel oder Straßburg allein nicht hinbekommt: Affektive Zugehörigkeit nicht nur zu einem Land, sondern zu ganz Europa, eine Woche lang (wenn man die beiden Halbfinale mitzählt), auf der Bühne, zum Mitfeiern! Wer auch immer den ESC gewinnt, der eigentliche Star des Abends ist Europa selbst.

Muss man sagen „war“? In den vergangenen Tagen ist das Ende des ESC ausgerufen worden. Seit Monaten gab es einen Streit um die Teilnahme Israels am Wettbewerb. Jetzt hat die European Broadcasting Union (EBU) entschieden, dass Israel 2026 in Wien dabei sein darf. Daraufhin kündigten nun mindestens vier Länder ihren Boykott an – Spanien, die Niederlande, Irland und Slowenien – trotz der mittlerweile, wenn auch fragilen, Waffenruhe in Gaza.

Boykotte aus politischen Gründen gab es schon in der Vergangenheit, aber diesmal ist mit Spanien nicht nur eines der Big-5-Länder, also der größten Geldgeber, die automatisch für das Finale gesetzt sind, dabei, sondern mit den Niederlanden (fünf Siege) und Irland (sieben Siege) auch noch zwei der traditionsreichsten ESC-Länder. Schon in den letzten beiden Jahren, nach dem Überfall der Hamas auf Israel und der militärischen Antwort der israelischen Armee im Gaza-Streifen, gab es heftige Diskussionen darüber, ob Israel weiterhin beim ESC mitmachen darf.

Zur Erinnerung: Beim ESC sind nicht Regierungen am Start

Was für die einen ein Akt der Selbstverteidigung, war für die anderen ein Genozid an den Palästinensern. Natürlich ist die Lage komplexer, aber diese Lagerbildung durchzieht auch alle Ebenen des ESCs: Von den Fans und Performenden, die Solidarität mit der einen oder anderen Seite demonstrieren, bis zu den Positionen der jeweiligen Regierungen in diesem Konflikt.

Im Kontext des ESC wird die Diskussion dadurch weiter verkompliziert, dass hier ja nicht Regierungen, sondern nationale TV- und Rundfunkanstalten die Teilnehmenden entsenden, die übrigens gegenüber der EBU auch nachweisen müssen, dass sie vom Staat unabhängig sind. So können zum Beispiel Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und Kanzler Friedrich Merz zwar öffentlich fordern, dass auch Deutschland dem ESC fernbleiben würde, sollte Israel ausgeschlossen werden; weisungsbefugt gegenüber der ARD, die die deutschen Teilnehmenden zum ESC schickt, sind sie aber eben gerade nicht.

Das Gleiche gilt für das Verhältnis des israelischen Senders Kan zur Regierung Netanjahu (im Unterschied zu Russland, das seit 2022 nicht mehr mitmachen darf), auch wenn ESC-Teilnehmende immer wieder Nähe zu ihren Regierungen suchten, so auch die Sängerin Netta nach ihrem Sieg für Israel 2018. Teil der Geschichte ist aber auch, dass Israel Künstlerinnen zum ESC schickte, die auf der Bühne Solidarität mit den arabischen Nachbarn (2000) oder der eigenen arabischen Bevölkerung (2009) zeigten.

Ist kultureller Boykott die richtige Antwort?

Dazu kommt die grundsätzliche Frage, ob kultureller Boykott überhaupt ein gutes Mittel des Protests ist. Es würde einem Staat zwar das Instrument der kulturellen Diplomatie aus der Hand nehmen, deren Ziel es sein kann, durch schöne Bilder von politischen oder militärischen Konflikten abzulenken. Es würde aber auch gleichzeitig den Kontakt zwischen Zivilgesellschaften – und Fans – unterbinden und einzelne KünstlerInnen für politische oder militärische Entscheidungen ihrer Regierungen verantwortlich machen.

Ich halte den Boykott des ESCs aus Protest gegen Israel für keine gute Idee. Der ESC sollte nicht zum Schauplatz dafür werden, was der EU nicht durch eine koordinierte Politik gelingt. Allerdings wäre es auch naiv zu glauben, Politik ließe sich bei einer solchen Veranstaltung außen vorlassen. Der letzte ESC in Basel versuchte sich zwar betont unpolitisch zu geben, im Jahr zuvor in Malmö hatten Proteste von Fans und Künstlern die Veranstaltung allerdings stark beeinträchtigt.

Der ESC ist ein Friedensprojekt der Nachkriegszeit, für Konflikte unter den teilnehmenden Nationen ist er nicht gut gewappnet. Sie zehren an seiner Identität als Projekt der Integration. Die einzige Lösung für den ESC besteht in diesem Fall darin, die Situation auszuhalten.

Übrigens wird gerade verhandelt, ob neben Australien in Zukunft auch Kanada beim ESC teilnehmen wird. Das wäre eine gute Nachricht, die der ESC – und Europa – gerade gut gebrauchen könnte. Trotz interner Konflikte würde sich der ESC damit als attraktiv und stabil präsentieren können, und zwar auch geopolitisch nach außen. Nicht zuletzt auch als Gegengewicht zur wieder ins Leben gerufenen Gegenveranstaltung „Intervision“, eigentlich ein Relikt des Kalten Krieges, bei der Russland im September nicht nur ehemalige Sowjetrepubliken, sondern auch die BRICS-Staaten mit ins Boot holte.