„Es schien ihnen egal zu sein, wie viele von ihnen umkamen“
„Beispielloser Sieg“ oder schmachvoller Rückzug? Die Feuerprobe der US-Luftkavallerie in Vietnam im November 1965 wurde zum Gemetzel: In der Schlacht töteten die GIs Vietcong im Verhältnis 1:20 – und wurden dennoch evakuiert.
Die Schlachtrufe waren unmissverständlich: „Kill! Kill!“, schrien die meist jungen Männern des Vietcong, als sie auf die Stellungen der Amerikaner zustürmten; vielleicht auch: „Kill the GIs!“ Die zahlenmäßig weit unterlegenen US-Soldaten erwiderten: „Kommt nur, ihr Bastarde, wir warten auf euch.“ Dann mähten sie ihre vorwärts stolpernden Gegner mit Salven aus ihren Sturmgewehren nieder. Doch die Zahl der Angreifer war so groß, dass die Situation trotzdem bedrohlich wurde; ein GI berichtete später: „Die hatten uns umzingelt. Es war schrecklich.“
Rund 48 Stunden dauerte die Schlacht um die Landezone X-Ray am Flüsschen Ia Drang im westlichen Hochland Südvietnams, die erste große Konfrontation zwischen US-Truppen und kommunistischen Kämpfern. Nach der katastrophalen Niederlage Frankreichs bei Dien Bien Phu 1954 hatten in dem nun geteilten Land vor allem südvietnamesische Soldaten die ständig angreifenden Verbände aus dem Norden abgewehrt. Schon seit 1957 allerdings waren US-Militärberater und Spezialeinheiten in zunehmendem Maße in die Kämpfe hineingezogen worden.
Nach dem (keineswegs, wie es bei Wikipedia heißt, „fingierten“) Tonkin-Zwischenfall 1964 eskalierte die Lage. Nach einem nordvietnamesischen Überfall auf das amerikanische Camp Holloway nahe der südvietnamesischen Stadt Plei Cu im Februar 1965 ordnete US-Präsident Lyndon B. Johnson massive Bombardements der nordvietnamesischen Logistik an. Doch mit Luftangriffen allein war es nicht möglich, die zu bis zu 90 Prozent von Vietcong-Freischärlern beherrschte weitere Umgebung von Saigon, der Hauptstadt Südvietnams, unter Kontrolle zu bringen.
Das wusste auch General William Westmoreland, der Oberbefehlshaber der US-Truppen in Südostasien. Also entwickelte sein Stab eine innovative Kampftaktik, die technische und logistische Vorteile der US Army maximal nutzen sollte: Hubschrauber sollten Kampfverbände in Bataillonsstärke in ein Einsatzgebiet bringen, mit Nachschub versorgen und sie nach erfülltem Auftrag wieder abholen. Weil schwere Waffen wie Kampf- und Schützenpanzer so nicht eingesetzt werden konnten, sollte die Infanterie durch koordinierte Angriffe aus der Luft sowie durch Artillerie in vorgeschobenen Positionen am Boden unterstützt werden, die dafür manchmal bis an den Rand ihrer Reichweite gehen musste. Um bei dieser Unterstützung nicht eigene Soldaten zu gefährden („friendly fire“), war eine exakte Steuerung durch lokal eingesetzte Beobachter notwendig.
Die 11. Luftlandedivision hatte diese Taktik in den USA eingeübt; sie war nun in 1. Kavalleriedivision (luftbeweglich) umbenannt worden. Die Soldaten dieses Verbandes nannten sich selbst „AirCav“, also „Luftkavallerie“. Ab Juli 1965 ging die Division nach Südvietnam; Anfang November waren ihre drei Brigaden weitgehend einsatzbereit.
Die Bewährungsprobe für die neue Taktik kam bald. Der Vietcong bereitete wieder mal einen Angriff Richtung Saigon vor. Dafür wurden Truppen in einem kaum zugänglichen Gebiet westsüdwestlich des Distrikts Chu Se zusammengezogen. Westmoreland ließ daraufhin bei dem Dorf Plei Me einen zeitweiligen Artilleriestützpunkt mit mehreren Batterien 105-Millimeter-Haubitzen errichten – diese Geschütze hatten eine maximale Reichweite von elf Kilometern.
Am 14. November 1965 erfuhren die US-Befehlshaber, dass Vietcong-Einheiten einen Angriff auf Plei Me ausführen wollten. Das war genau die Situation, in der die neue Taktik der schnellen luftgestützten Einsätze von Infanterie angewendet werden konnte. Die US-Offiziere vor Ort entschieden, einen „Search-and-Destroy“-Auftrag zu geben: Eigene, eingeflogene Truppen sollten den Feind an einer geografisch günstigen Stelle erwarten und ihn mit Artillerieunterstützung schlagen. Als geeigneten Einsatzort war eine Lichtung von gut einem Hektar Größe ausgesucht, rund acht Kilometer östlich der Feuerstellung und damit gut in der Reichweite der Artillerie; dort konnten etwa acht Hubschrauber gleichzeitig landen.
Bald nach zehn Uhr vormittags eröffnete die US-Artillerie ein heftiges Vorbereitungsfeuer, dann landeten, nach einem gut viertelstündigen Flug, die ersten GIs in der Landezone X-Ray (so der Name der Lichtung für den Einsatz). Zur Verfügung standen 16 leichte Transporthubschrauber des Typs Bell Huey, doch weil nur acht gleichzeitig die jeweils bis zu zwölf Mann an Bord absetzen konnten, dauerte es bis etwa zwölf Uhr, bevor die für diesen Einsatz vorgesehenen etwa 450 Mann am Boden waren. Den Befehl vor Ort hatte Lieutenant Colonel Harold G. „Hal“ Moore, ein bewährter Frontoffizier.
Von einem gefangenen Vietcong erfuhr schon der Voraustrupp, dass ihnen rund 1600 Mann in überhöhter Position gegenüberstanden und weitere Verbände im Anmarsch waren. Eine ungünstige Lage, aber angesichts der überlegenen Feuerkraft der GIs noch nicht unbedingt ein Grund zur Sorge. Um 12.15 Uhr begann das Gefecht, bei dem jedoch bis etwa 13 Uhr ein Teil des 2. Zuges (Platoon) der B-Kompanie des 7. Bataillons der „AirCav“ am Rande der Lichtung eingekesselt wurde. Aus dem Wald strömten Vietcong-Kämpfer geradezu auf die rund 30 Amerikaner zu, denen sie schwere Verluste zufügten, während sie selbst noch keine Verluste erlitten.
Das änderte sich bald. Der Druck des Vietcong wurde so groß, dass der Zugführer, Lieutenant Henry Herrick, seinen Männern befahl, einen Verteidigungsring auf einer kleinen Anhöhe auf der Lichtung zu bilden. Innerhalb einer knappen halben Stunde fielen trotzdem fünf Mann seines Zuges, darunter auch Herrick selbst. Bevor er starb, teilte er per Funk mit, dass er getroffen sei und das Kommando an einen Sergeant übergebe. Aus diesen Kämpfen stammt der Bericht über die scheinbar endlos vorstürmenden Freischärler und ihrer Rufe „Kill! Kill!“.
Schon acht Amerikaner waren gefallen, 13 weitere verletzt – nur noch die Hälfte des Platoons war kampffähig „Wir konnten unmöglich einen Schützengraben ausheben“, berichtete einer der eingekesselten GIs: „Das Feuer war so heftig, dass man tot war, wenn man versuchte, sich zum Graben aufzurichten. Überall herrschten Tod und Zerstörung.“ Der Sergeant, der das Kommando übernommen hatte, erinnerte sich an die Attacken der Vietcong-Kämpfer: „Es schien ihnen egal zu sein, wie viele von ihnen dabei umkamen. Manche stolperten und liefen direkt auf uns zu. Andere hatten ihre Gewehre über der Schulter und stürmten so los. Mir ging die Munition nicht aus – ich hatte etwa dreißig Magazine im Rucksack.“
Das Gemetzel ging bis Sonnenuntergang weiter, dann beruhigte sich die Situation etwas. „Hal“ Moore hielt seine Soldaten zusammen und organisierte die Abwehr – auch, als die Freischärler in der Nacht drei weitere Angriffe auf den eingekesselten Zug starteten, einen kurz vor Mitternacht, einen gegen 3.15 Uhr und einen um 4.30 Uhr. Alle wurden zurückgeschlagen.
Auch an anderen Landeplätzen in der Nähe wurde inzwischen heftig gekämpft, denn die „AirCav“ versuchte, ihre eingeschlossenen Kameraden zu entsetzen. Doch zwei Entlastungsangriffe am 15. November schlugen fehl. Erst beim dritten konnten die Reste des Platoons abgeholt werden und zu einer mit Verstärkungen besetzten improvisierten Stellung in der Landezone X-Ray gebracht werden. Von den rund 30 Männern, die eingekesselt gewesen waren, waren neun gefallen und 13 kampfunfähig verletzt.
Bald darauf schlugen Bomben aus riesigen B-52-Flugzeugen in den umliegenden Stellungen des Vietcong ein: Westmoreland setzte zur Entlastung der „AirCav“ die zerstörerischste Waffe ein, die ihm zur Verfügung stand. Fünf Tage lang dauerten die Bombardements.
Am 16. November um 4.22 Uhr startete der Vietcong den nächsten Angriff auf die nun in der Landezone X-Ray konzentrierten US-Soldaten um den inzwischen verwundeten Moore. Mit Maschinengewehren und genauen Feuerbefehlen für die rund 20 Haubitzen in der Feuerstellung bei Plei Me schlugen die GIs die Angreifer zurück – getreu dem Motto ihres kommandieren Offiziers: „Es gibt immer noch etwas, das man tun kann, um seine Erfolgschancen zu erhöhen.“
Um 10.30 Uhr begann schließlich der Abzug der am stärksten abgekämpften Einheiten. Zwei Kompanien, die als Verstärkung eingeflogen worden waren, hielten die Stellung, bis auch sie ausgeflogen wurden
Nach den Kämpfen um die Landezone X-Ray waren die Leichen von mindestens 634 Vietcong gezählt worden; weitere mehr als 1200 wurden wahrscheinlich durch Artillerie- und Luftangriffe getötet. Sechs Freischärler waren gefangen genommen und ausgeflogen worden. Die „AirCav“ hatte 79 Tote und 121 Verwundete zu konstatieren.
Allerdings herrschte Uneinigkeit, ob die Kämpfe am Ia Drang nun ein Erfolg der Amerikaner waren oder nicht. Während Westmoreland erklärte, die US-Streitkräfte hätten in dieser Schlacht einen „beispiellosen Sieg“ errungen, zeigte sich der Kommandeur der 1. Kavalleriedivision (luftbeweglich) General Bob Knowles sehr zurückhaltend; er hatte sich am zweiten Tag selbst in die Landezone X-Ray einfliegen lassen, um sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen.
Der WELT-Kriegskorrespondent Uwe Siemon-Netto beschrieb bald darauf die Veränderung des Vietnamkrieges seit seinem Besuch im umkämpften Land im Februar 1965. Mindestens 100.000 Vietnamesen seien allein in diesem knappen Jahr gestorben – Soldaten der südvietnamesischen Regierung, Vietcong, nordvietnamesische Truppen, vor allem aber Zivilisten: Männer, Frauen und Kinder. Und auch etwa 1500 GIs.
„Wenn heute die Amerikaner sagen können: ,Wir verlieren den Krieg nicht mehr, auch wenn wir ihn noch nicht gewinnen‘, so haben sie es nicht zuletzt der Air Force und der 1. Luftkavalleriedivision zu verdanken“, schrieb Siemon-Netto weiter: „Seit ihrem Eintreffen im September ist der Urwald plötzlich kein Handicap mehr, wenn man die Vietcong beim Schopf packen, wenn man ihnen notfalls in Brigadestärke nachstellen will. Man kann aus der Luft tun, was der Feind seit dreißig Jahren auf dem Boden vorexerzierte: zuschlagen und verschwinden.“
Aber trotz aller technischen Überlegenheit der Amerikaner gaben sich die Freischärler, die mit massiver Unterstützung aus Nordvietnam auf südvietnamesischem Boden wieder und wieder angriffen, nicht auf. „Die ständig zunehmende Truppenstärke der Amerikaner in Vietnam wird durch die unaufhörliche Infiltration nordvietnamesischer Volksarmisten erzwungen“, berichtete der WELT-Korrespondent. Aus diesem Teufelskreis fanden die USA in den kommenden Jahren keinen Ausweg.
Source: welt.de