„Es kann gut sein, dass sich die Wahrheit davon die nächsten 500 Jahre nicht rekonvaleszieren wird“

Hito Steyerl erforscht Science-Fiction und Künstliche Intelligenz. Im Interview spricht sie über KI-Schrott, Dada-Propaganda und die Frage, wie Wissenschaft und Kunst in einer überfluteten Öffentlichkeit bestehen können.

Hito Steyerl treffen wir in Mailand, wo sie im Osservatorio der Fondazione Prada ihre Ausstellung „The Island“ eröffnet. Seit Jahren gilt die 1966 in München geborene Videokünstlerin, Theoretikerin und Autorin als eine der wichtigsten Personen in der Kunstwelt. Vor kurzem ist ihr Buch „Medium Hot“ mit Essays über Künstliche Intelligenz erschienen. In der Ausstellung drängen sich Besucher zwischen Bildschirmen und Installationen. Es geht um Science-Fiction und KI, um untergegangene, erfundene und mögliche Welten. Im Gespräch erklärt Hito Steyerl, warum der Möglichkeitssinn heute von der Kunst in die Wissenschaft gewandert ist und warum Social Media sie fatal an die 1930er-Jahre erinnert.

WELT: In „The Island“ zeigen Sie Ihren neuen Film, aber auch Videointerviews mit Quantenphysikern, Archäologen und Darko Suvin. Wer ist das, Frau Steyerl?

Hito Steyerl: Suvin ist ein Philosoph und Literaturkritiker, der das Feld der Science-Fiction-Studies etabliert hat. Er wuchs im heutigen Kroatien auf und war vor 1945 diversen faschistischen und sonstigen Regimes ausgesetzt. Ständig andere Welten waren für ihn normal. Dass er bei Science-Fiction landete, war kein Wunder.

WELT: In Ihrem Film sagt Suvin, dass Science-Fiction heute der arme Cousin einer reichen Familie der Fantasy ist.

Steyerl: Suvins These ist, dass Science-Fiction durch Fantasy wie „Game of Thrones“ ersetzt wurde, durch feudal-verschwurbelte Schwertspektakel. Das ist ein instrumenteller Atavismus, bei dem der Kampf aller gegen alle und das Überleben der Stärksten als Spektakel inszeniert wird. Aber vielleicht müssen wir uns vor einer neuen Steinzeit gar nicht fürchten. Wir müssen da halt durch und vielleicht wird das ganz anders, als wir denken. Wie bei David Graeber und David Wengrow (Autoren des Bestsellers „Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit“, Anm. d. Red.), die uns eine neue Blickweise auf das Neolithikum eröffnet haben; als Playtesting verschiedener Machtstrukturen.

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WELT: In Science-Fiction steckt einerseits die Wissenschaft, die man mit dem Wirklichkeitssinn verbindet, andererseits die Kunst, die mit dem Möglichkeitssinn assoziiert wird. Bei Ihnen ist das anders. Warum?

Steyerl: In der Wissenschaft geht es viel um das Mögliche, von Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung bis zur Quantenphysik. Es ist eine veraltete Vorstellung, dass man vor dem Wirklichen weglaufen und sich irgendetwas ausdenken muss, um beim Möglichen zu landen. Umgekehrt! Wir müssen durch die Wirklichkeit hindurch, in der viele mögliche Welten stecken. Vorher müssen wir allerdings die unvollständige Welt der Fakten retten, die von einer Welle der „Fake News“ und KI-Slops (also KI-Schrott, Anm. d. Red.) überrollt wird.

WELT: Wissenschaft stellt man sich als geschlossenes System vor, oder?

Steyerl: Zu Unrecht! Wir können die Welt nicht im Gesamten erfassen. Wie die berühmte Unschärferelation: Man kann ein Partikel entweder als Welle oder Teilchen erfassen, nie beides gleichzeitig. Man hat Erkenntnisse nicht für immer und ewig, sondern ist im unaufhörlichen Prozess des Mehr-Erkennens. Das schützt vor der Hybris, alles als verfügbar zu betrachten.

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WELT: Im Tarkowski-Film „Stalker“ gibt es diese Gruppe von Leuten, die Kugeln mit Seilen in die Gegend wirft und hinterherläuft. Ein tolles Bild: Wir schmeißen etwas ins Unbekannte, gehen dem nach und finden auf diese Weise etwas heraus.

Steyerl: Entspricht nur leider nicht der Realität, denn natürlich unterliegt die Wissenschaft denselben Zumutungen wie die Kunst: Drittmittelbürokratie, Militarisierung, Verwertungszwang, Druck und Zensur von Rechtspopulisten und Optimierungsdruck seitens der Wirtschaftskreise, die gerade Nordstream mit Rheinmetall ersetzt haben. Da muss man sich nichts vormachen.

WELT: Sie sagten einmal, dass die Wahrheit im 21. Jahrhundert ebenso beschädigt wird wie die Schönheit im 20. Jahrhundert. Wie ist das gemeint?

Steyerl: Meine Tochter ist gerade verliebt in den deutschen Idealismus und wir diskutieren über das Schöne, Wahre und Gute. Ihrer Meinung nach ist das vorbei. Ich frage mich, was mit diesen Begriffen historisch passiert ist. In der Kunstgeschichte ist nach dem Ersten Weltkrieg von der Schönheit nicht mehr die Rede, die ist im Schützengraben liegengeblieben und Otto Dix hat die Prothesen gemalt. Seit Ende des 20. Jahrhunderts passiert mit der Wahrheit etwas Ähnliches. Es kann gut sein, dass sie sich davon die nächsten 500 Jahre nicht erholen wird.

WELT: Mit der Atombombe taucht bei Ihnen auch das Symbol der technisch-militärischen Weltvernichtung auf. Warum?

Steyerl: Für Leute wie Günther Anders und Hannah Arendt war die Atombombe auch ein Zeichen, dass so was wie Menschheit vorher konkret gar nicht gegeben war. Wenn sie aber als Ganzes vernichtbar ist, entsteht sie. Das Gleiche gilt für menschliche und künstliche Intelligenz. Das Problem ist nur, was Arendt als Krise des „Welt-Sinns“ beschreibt, der durch das Kommunizieren und Handeln der Menschen entsteht. Wenn jedoch alle nur in ihren Filter-Bubbles sitzen, entsteht keine Welt mehr. Das Konzept Welt ist überholt und muss neu erfunden werden.

WELT: Sie beschäftigen sich seit Langem mit KI. Was passiert da gerade?

Steyerl: Die KI-Industrie hat sich in einen Wettlauf verstrickt, aus dem sie nicht mehr herauskommt. Ein Wettrüsten, das den großen Playern unausweichlich erscheint. Der ganze prometheische Quatsch mit den Versprechungen und Verheißungen der KI hat sich aber gerade erschöpft. Man sieht immer klarer, dass es nur um Profite geht, und die bleiben aus. Die Tech-Konzerne werden von einem radikalen Opportunismus angetrieben, nicht von Ideen zur Menschheitsbeglückung. Wir hätten jetzt die Chance daraus zu lernen und diese quasi-monopolistische Misere im kommenden Zeitalter des Quantencomputing nicht zu wiederholen.

WELT: Sie arbeiten selbst mit KI in ihren Videos. Was ist Ihr Zugang?

Steyerl: Der kam durchs Selbermachen und Rumbasteln. Das ging mit älteren KI-Modellen noch einfacher, momentan macht es wenig Spaß. Bereits Leibniz hatte die Idee, alle logischen Operationen mit 0 und 1 zu codieren. Interessant wird es mit den Quantencomputern, weil die über binäre Logik hinausgehen. Da gibt es mehr Möglichkeiten als nur eine glatte 0 oder 1: Verschränkung und Überlagerung.

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WELT: In „The Island“ thematisieren Sie den digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit, eine Station erinnert an TikTok, eine andere ans Kino.

Steyerl: Das Erstaunliche ist, dass die sogenannte digitale Öffentlichkeit so erfahrungsarm ist, während vor der eigenen Haustür Welten aufeinanderprallen. Da muss ich nur in Berlin auf die Straße gehen. Kino dort ist mittlerweile auch recht abenteuerlich, man darf auch die Socken der Leute besichtigen.

WELT: KI-Slop überschwemmt digitale Öffentlichkeit. Ist das, frei nach Steve Bannons „flood the zone with shit“, eine Form der Propaganda?

Steyerl: Das ist eine neue Kunstrichtung: Rechtsdada. Es geht darum, die Absurdität und Sinnlosigkeit des Daseins zu bejahen und auf die Spitze zu treiben. Niemals eine Position vertreten, sondern nur damit spielen. Die Transgression wiederbeleben. All das, und vor allem immer mehr davon. Nach zweieinhalb Jahren Arbeit an „The Island“ fühle ich mich wie eine Seegurke. Das sind interessante Viecher, sie filtern Wasser und ernähren sich vom organischen Müll darin. Ich habe jetzt monatelang autoritären KI-Slop gefiltert, der in „The Island“ als brauner Tsunami auftaucht. Wie eine brave Seegurke. Mir ist ein bisschen schlecht.

WELT: Was bedeutet diese Zeichenflut für die Kunst?

Steyerl: Man kann als Künstler gar nicht mehr konkurrieren, die Propaganda-Seite ist voll automatisiert. In dem unglaublich inspirierenden Manifest „Exocapitalism“ vertreten die Autoren die These, dass die klassische Wertschöpfungsarbeit durch Volatilitätsarbeit abgelöst wird. Chaos und Disruption als Profitchance. Was dagegen hilft? Sich dem Chaos verweigern, nicht mitmachen, sich der Empörung enthalten. Einfach ein bisschen chillen.

WELT: Jean Baudrillard hat einmal vom tendenziellen Fall der Kommunikationsrate gesprochen.

Steyerl: Ein exponentieller Fall der Kommunikationsrate! Baudrillards Theorie der Simulakren und Simulation ist mir zu kulturkritisch. Kulturkritik ist heute nicht genug. Man schimpft auf das Neue und bleibt darin stecken. Die Frage ist doch, was man mit dem Neuen macht. Wir müssen weiterwurschteln, wieder das Seil auswerfen.

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WELT: Ist die digitale Öffentlichkeit verloren?

Steyerl: Was wir heute erleben, erinnert mich an das Radio in den 1930er-Jahren. Bertolt Brecht hatte die Idee, dass die Leute von Empfängern zu Sendern werden. Hans Magnus Enzensberger hat das später auch aufgegriffen. Das hat sich alles zynisch verwirklicht: Alle senden unaufhörlich, unter Aufsicht von Konzernen, die die Daten aufsaugen, um ihre Modelle zu trainieren. Ob Brecht oder Walter Benjamin: Alle finden damals das Radio super und spielen damit rum. Und dann kommt Goebbels.

WELT: Die Avantgarden des 20. Jahrhunderts träumten von der Kunst als Waffe. Hat sich auch das zynisch verwirklicht?

Steyerl: Es gibt eine alte Verbindung von Kunst und Krieg. Bei der Kamera ist das offensichtlich, Harun Farocki hat sich zeitlebens damit beschäftigt. Jetzt erleben wir eine neue Stufe, in der es weniger um optische Medien und deren Indienstnahme geht, sondern um statistische Medien wie KI. Kunst, oder allgemeiner, Bilder werden immer mehr ein Mittel der „Zeitenwende“ und der „Kriegstauglichkeit“, die Möglichkeit zieht in den Krieg.

„Hito Steyerl: The Island“, bis zum 30. Oktober 2026, Osservatorio Fondazione Prada, Galleria Vittorio Emanuele II, Mailand

Dieser Artikel stammt aus der Guest Edition der WELT AM SONNTAG von Andreas Gursky, einem der berühmtesten Fotografen der Welt. Sie können dieses einzigartige Sammlerstück hier bestellen.

Source: welt.de