Energieversorgung in welcher Ukraine: „Der Business-Case liegt in der Nachkriegsukraine“

Es passiert in diesen Tagen in Kiew immer wieder, auch ohne Ansage, mitten am Tag. Dann gehen die Ampeln aus, springen vor Läden und an Kiosken Generatoren an, die vor sich hinrattern wie Rasenmäher. Ist der Strom weg, fallen in vielen Geschäften die Kartenlesegeräte aus. Die Leute lassen anschreiben oder sehen sich gezwungen, Bargeld zu holen, was in der Ukraine eher ungewöhnlich ist. Männer schleppen Kisten von Ecoflow durch die Gegend, einem Hersteller von tragbaren Stromversorgungsanlagen, die man auch in Wohnräumen nutzen kann.

So schlecht wie jetzt stand es noch nie um die Energieversorgung in der Ukraine. Landesweit müssen die Menschen mit Stromausfällen rechnen. Zu groß sind die Schäden, die russische Drohnen- und Raketenangriffe allein in den vergangenen drei Wochen an der Infrastruktur angerichtet haben. Wenn die Temperaturen auf 30 Grad steigen und die Leute ihre Klimaanlagen anschalten oder wenn einzelne Blöcke eines Kernkraftwerks gewartet werden, kappen die Versorger den Strom gleich für ein paar Stunden.

Kraftwerke liefern nicht mal mehr die Hälfte an Strom

Dtek, das größte ukrainische Energieunternehmen, gibt beispielhaft an: In Kiew und der umliegenden Region haben am 22. Mai zeitweise nur 70 bis 77 Prozent des Strombedarfs gedeckt werden können. Anfangs schränkten die Energieunternehmen die Versorgung nach den massiven Angriffen allein für die Industrie ein, aber das reichte nicht. Das Netz blieb überlastet, die Einschränkungen wurden auf private Haushalte erweitert – und die Strompreise verdoppelt. Online kann jeder prüfen, an welchen Stunden in den nächsten Tagen Strom aus den Steckdosen in der eigenen Wohnung kommen wird. Doch nicht immer ist darauf Verlass.

Vor Beginn der Invasion zählte die Ukraine zu den größten Energieproduzenten Europas. Das Land hatte eine Erzeugungskapazität von 55 Gigawatt. Aktuell ist es nicht einmal mehr die Hälfte. Laut Dtek haben die russischen Drohnen und Raketen allein seit Anfang Mai 9,2 Gigawatt an Kraftwerkskapazität zerstört. Um die Stromlücken zu schließen, importierte die Ukraine im Mai so viel Energie wie nie seit Beginn der Invasion, längst ist sie an das europäische Stromnetz angeschlossen. Aber Importe allein können die Schäden nicht ausgleichen.

Die Reparatur der beschädigten und zerstörten Produktionsanlagen wird lange dauern, viel kosten – und nicht in jedem Fall möglich sein. Schon im Herbst und Winter 2022 griff Russland gezielt die Energieinfrastruktur an, konzentrierte sich damals aber zunächst auf das Stromnetz. Energieunternehmen bildeten im Eilverfahren Arbeiter aus, die zerstörte Leitungen und Transformatorenstationen wieder aufbauen konnten. Zuletzt trafen die russischen Raketen und Drohnen allerdings direkt die Wärmekraft- und Wasserkraftwerke. Diese Schäden sind viel schwieriger zu beheben.

Die instabile Energieversorgung dürfte zumindest bislang noch keinen allzu großen Einfluss auf die Entscheidungen ausländischer Investoren haben. „Anleger betrachten die Risiken im Paket, und der Energiefaktor ist nicht der entscheidende“, sagt Hlib Wyschlynskyj, Direktor des Zentrums für ökonomische Strategien, eines in Kiew ansässigen Thinktanks. Wichtiger sind die Entwicklungen an der Front sowie die langfristigen Zusagen des Westens an die Ukraine.

„Potenzielle Investoren planen über diesen Herbst und Winter hinaus, der Business-Case liegt in der Nachkriegsukraine“, sagt auch Reiner Perau, Geschäftsführer der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer. „Die Unternehmen stehen nicht Schlange, um in der Ukraine zu investieren, aber es gibt trotzdem einzelne Projekte und ein langfristiges Interesse.“ Die Zahl der Mitglieder in der Kammer wachse.

Die Verwüstung, die Russlands Angriffe hinterlassen, könnte westliche Investoren sogar anziehen: In der Ukraine betonen Experten und Politiker, dass die Energieproduktion dezentralisiert werden müsse. Große Wasser- und Wärmekraftwerke sind zu leichte Ziele für russische Raketen. Westliche Unternehmen, die Biogas-, Solar- und Windkraftanlagen bauen, könnten darin eine Chance sehen.

Doch fürs Erste muss sich die Ukraine auf einen Winter einstellen, der noch dunkler und kälter sein wird als die vorherigen.