ENBW-Chef im Interview: „Wir brauchen eine industrielle Revolution“
Sie sind seit drei Monaten Chef des Energieversorgers ENBW und wurden mitten hineingeworfen in die Energiekrise. War es weniger dramatisch, als Sie befürchtet hatten?
Was die Versorgung angeht, sind wir gut durch den Winter gekommen. Und wir werden auch in den nächsten Wochen keine Knappheit erleben. In der Betrachtung sollten wir Strom und Gas separieren. Beim Gas hatten wir auch Glück mit den Temperaturen. Es ist wichtig, weiterhin Gas zu sparen. Die Industrie macht das bereits, viele Haushalte aber nicht in dem Umfang, wie es nötig wäre. Beim Strom haben wir Vorsorge betrieben: Brennstoffe wurden beschafft, Kraftwerkskapazitäten bereitgestellt.
Was ist mit dem kommenden Winter?
Darauf muss sich jetzt der Blick richten. Wir müssen die Speicher auffüllen und den Ausbau der Erneuerbaren vorantreiben. Mit der veränderten Situation ergibt sich auch eine große Chance, die Energiewende zu beschleunigen.
Haben Sie Prognosen für den nächsten Winter?
Es gibt Szenarien, auch was das Wetter angeht, allerdings ist es zu früh, darüber zu spekulieren. Es wäre wünschenswert, im April bei 45 bis 55 Prozent zu liegen, um über das Jahr ausreichend einspeichern zu können. Wir müssen weiter an jede Kilowattstunde und an jeden Kubikmeter Gas denken.
War die Panik gerechtfertigt? Der deutsche Staat hat mit seinen Koste-es-was-es-wolle-Einkäufen einige der Kapriolen erst ausgelöst. War das falsch?
Das ist wie die Diskussion über Fußballergebnisse am Montag: Hätte er früher ausgewechselt oder anders aufgestellt. Es zählt das Ergebnis: Drastische Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und die Konsumenten wurden vermieden. Was haben wir denn im Herbst diskutiert? Zum Beispiel die Reihenfolge von Abschaltungen.
Die Gaskäufe waren nicht übertrieben?
Das Ergebnis zählt.
Sie waren mit dem Gasimporteur VNG, der zu ENBW gehört, selbst stark betroffen. Der Staat hat Ihnen kräftig unter die Arme gegriffen. Zeigt das, wie wichtig der Staat am Ende ist?
Das Jahr 2022 war ein besonderes. Es ging darum, einen Dominoeffekt zu vermeiden, deshalb war es notwendig, dass der Staat kurzfristig eingegriffen hat. Die VNG beliefert Stadtwerke, Privatverbraucher und die Industrie. Es war wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass die Versorgungskette erhalten blieb.
Und im Strommarkt?
Die Abschöpfung von Erlösen bis hin zu den Preisbremsen hat seine Berechtigung. Ich bin aber froh, dass sich die Regierung gegen eine nachträgliche Abschöpfung von Erlösen entschieden hat. Ein solcher Eingriff hätte das Vertrauen von Investoren in unser Land belastet. Deshalb ist wichtig: Die Eingriffe müssen befristet bleiben, der Strommarkt muss auch zukünftig nach marktwirtschaftlichen Kriterien ausgerichtet werden.
Hat das vergangene Jahr gezeigt, dass der Strommarkt in der Krise nicht so gut funktioniert und man den Staat braucht?
Der Strommarkt und das Merit-Order-Prinzip haben über viele Jahre dazu geführt, dass wir wettbewerbsfähige Preise in Deutschland und Europa hatten. Im Merit-Order-Prinzip kommen zuerst die günstigste Energieerzeugung zum Zuge, und die teuerste Anlage, die benötigt wird, bestimmt den Preis. Es muss sich für Investoren lohnen, in den Ausbau der Erneuerbaren zu investieren. Zudem wird es auch in der Zukunft Tage geben, an denen die Erneuerbaren den Bedarf nicht decken. Dafür brauchen wir eine Lösung im Marktmodell, die es auch attraktiv macht, Kapazitäten vorzuhalten. Darauf müssen wir in der Überarbeitung achten.
Wie stehen Investoren zu Deutschland?
Ich sehe eine gewisse Skepsis von internationalen Investoren gegenüber dem deutschen Strommarkt. Die Aussagen aus der Politik werden da sehr aufmerksam registriert. Wir brauchen dieses Kapital aber dringend, um die Energiewende zu schaffen. Prognosen sprechen von 900 Milliarden Euro und mehr bis 2030.
Teilt die Bundesregierung Ihre Haltung, dass man aufhören sollte, ständig in den Markt einzugreifen?
Da lohnt sich der Blick in die Vereinigten Staaten. Mit dem Inflation Reduction Act (IRA) hat die US-Regierung klare Impulse gesetzt zum Umbau ihrer Energiewirtschaft. Der IRA sorgt mit steuerlichen Anreizen dafür, dass privates Kapital in den Umbau der Energiewirtschaft gebracht wird. Dort kommt man weg von Pilotprojekten und dahin, der Wirtschaft auf breiter Basis Anreize zu liefern. Ich kann jedoch gut nachvollziehen, dass es auch kritische Stimmen zum IRA gibt. Was nicht geht, ist, dass wir als ausländische Unternehmen auf dem US-Markt diskriminiert werden.
Zu meiner Frage: Was ist in Deutschland?
Es ist wichtig, zu erkennen, dass wir einen europäischen Strommarkt haben. Frankreich und Spanien haben einen Vorschlag eingebracht. Deutschland muss sich beteiligen.
Was schlagen Frankreich und Spanien vor?
Den Gaspreis für die Stromerzeugung zu subventionieren und das Merit-Order-Prinzip sonst beizubehalten. Auf Dauer ist ein Subventionsmodell aber nicht geeignet.
Und was wäre Ihr Vorschlag?
Wir brauchen eine Kombination: Eine Absicherung nach unten, damit die Investoren wissen, dass der Ertrag, den sie aus den Investitionen bekommen, nicht gegen null geht. Zudem muss es Vereinbarungen für Großverbraucher geben, damit die sich selbst eindecken können mit Erneuerbaren. Als ENBW bieten wir solche Modelle bereits an, zum Beispiel bei Offshore-Windparks. Dort wird ein Teil in den Handel gebracht, ein anderer Teil wird energieintensiven Unternehmen direkt verkauft.
Sie wollen eine garantierte Rendite?
Ja, am unteren Ende. Damit sichergestellt ist, dass die Investitionen kommen.
Heißt Rendite nicht immer auch Risiko?
Völlig richtig. Mit dem beschleunigten Ausbau der erneuerbaren Energien steigt das Risiko, dass der Handelspreis gegen null tendiert. Deshalb müssen wir die Investoren absichern.
Sie suchen für Ihren Übertragungsnetzbetreiber Transnet BW selbst nach Investoren. Es gibt Warnungen, dass kritische Infrastruktur verkauft werde. Werden die Investoren durch die politische Debatte abgeschreckt?
Die Entscheidung, einen Minderheitsanteil an der Transnet zu verkaufen, ist richtig. So erhalten wir dringend benötigtes Kapital, das wesentlich für den Ausbau der Netze ist. Auch das ist dringend notwendig für die Energiewende.
Können Sie ausschließen, dass sich Chinesen beteiligen?
Wir haben im Vorfeld klare Kriterien definiert und danach ausgewählt. Es wurden nur finanzstarke Investoren aus demokratischen Staaten zugelassen, die viel Erfahrung in der Energieversorgung und hohe ethische Standards mitbringen.
Viele Stromkunden sind frustriert. Die Preise für Privatkunden wurden drastisch angehoben. Jetzt hat sich der Markt beruhigt. Senken Sie die Preise wieder?
Wir beobachten zwar aktuell einen Rückgang der Preise an den Energiebörsen. Dies gilt aber insbesondere für den Spot-Markt, also für die sehr kurzfristige Beschaffung. Wir beschaffen die benötigten Gas- und Strommengen dagegen in der Regel langfristig, in Teilen sogar Jahre im Voraus. Diese befinden sich weiterhin auf einem hohen Niveau. Eine Prognose ist daher schwierig.
Manche hatten Pech und mussten einen neuen Vertrag abschließen. Wer einen alten Vertrag hat, ist fein raus. Ist das fair?
Diese Betrachtung ist etwas pauschal, da kommen viele Faktoren zusammen. Wichtig ist, dass der Staat soziale Verwerfungen abfedert. Das tut er mit der Strom- und Gaspreisbremse, wenngleich sie in der Umsetzung für uns sehr komplex ist.
Was ist mit dem Industriestrompreis?
Die Entlastung für die Industrie muss auf anderem Wege funktionieren. Wir halten einen Industriestrompreis nicht für zielführend, um dauerhaft kostengünstige Stromversorgung zu gewährleisten. Daher bevorzugen wir eine marktorientierte Lösung. Und wir brauchen die Erneuerbaren, weil die besonders günstig sind.
Wegen der schlecht ausgebauten Netze rufen Sie mit einer App Verbraucher zum Stromsparen auf, damit Sie bei Engpässen weniger Strom aus der Schweiz einkaufen müssen. Müssten nicht so viele Kapazitäten verfügbar sein, dass es gar keine Knappheiten gibt?
Wir hatten über Jahrzehnte ein Überangebot an Erzeugung. Darauf war das Verteilnetz ausgerichtet. Jetzt sind wir mitten in einem historischen Umbau: Wir haben schwankende Kapazitäten aus den Erneuerbaren. Wenn die Flaute haben, brauchen wir verfügbare Leistung; wir haben zusätzlich dezentrale Erzeugung von Privatkonsumenten mit Photovoltaik. Darauf müssen wir das Netz ausrichten, zum einen mit Investitionen in Infrastruktur, zum anderen mit smarten, digitalen Lösungen.
Warum rufen Sie nur zum Stromsparen auf? Man könnte die Kunden vergüten.
Das steht auf der Agenda, und hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Wir brauchen intelligente Stromzähler und eine automatische Steuerung für den Verbrauch von Haushaltsgeräten und das Laden von Elektrofahrzeugen. Wer sich als Kunde auf diese Flexibilität einstellt und den Strom nutzt, wenn er günstig ist, sollte auch belohnt werden.
Sie haben die Kraftwerke, die für Flauten der Erneuerbaren nötig sind, angesprochen. Was ist Ihnen am liebsten: klimaschädliche Kohle, fehlendes Gas oder abgeschaltete Atomkraftwerke?
Zunächst werden das Gaskraftwerke sein, die wir später auf Wasserstoff umstellen.
Wasserstoff spielt in der industriellen Realität noch nicht die allergrößte Rolle. Wir haben aber sehr viel Gas, das wir fracken könnten. Haben Sie daran Interesse?
Das weggefallene Gas aus Russland wird durch den globalen Bezug von LNG kompensiert. Fracking ist in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland schwer umsetzbar.
Und die Atomkraft?
Am 15. April wird das Kraftwerk in Neckarwestheim runtergefahren. Wir haben keinen Auftrag, dieses weiterzubetreiben. Und das würde Stand heute auch nicht funktionieren. Die Entscheidung, aus der Kernenergie auszusteigen, wurde 2011 getroffen, und darauf haben wir uns lange vorbereitet.
Sie setzen als Back-up auf Wasserstoff?
Wir stellen gerade drei Kohlekraftwerke auf Gas um, auch wenn das nicht komplett CO2-neutral ist und der Preis für Gas recht hoch. Der Anspruch muss es sein, parallel und schnellstmöglich die Erneuerbaren auszubauen, um den Einsatz der anderen Kraftwerke minimal zu halten. Perspektivisch folgt die Umstellung auf Wasserstoff.
Wir brauchen künftig auch wegen der Elektroautos deutlich mehr Strom. Aber der Netzausbau klappt nicht, als Back-up setzen Sie auf Gas aus LNG-Terminals und Wasserstoff. Wie soll das realistisch funktionieren?
Bis 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren kommen. Bis dahin braucht es eine große gemeinsame Anstrengung von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, um das zu stemmen. Wir brauchen eine industrielle Revolution für den Ausbau der Erneuerbaren.
Wie konkret ist die Wasserstoffwirtschaft?
Wir halten es für realistisch, bis 2035 unsere Kraftwerke mit Wasserstoff zu betreiben. Es gibt bereits viele Initiativen – von uns, aber auch von anderen Playern. Es ist mir wichtig, dass sich Baden-Württemberg proaktiv beteiligt.
Investieren Sie denn schon?
Wir haben Projekte, etwa mit Elektrolyseuren, unser Handel schaut sich das auch an. Bei den LNG-Verträgen sprechen wir das Thema an.
Das ist nicht übermäßig konkret. Bis 2030 sind es sieben Jahre, in den vergangenen sieben Jahren ist nicht viel passiert. Was ist jetzt anders?
Über die LNG-Terminals hätten wir vor einem Jahr vermutlich ähnlich nachgedacht. Wir brauchen die gleiche Perspektive für den Wasserstoff.
Sie sind auch der Betreiber des größten deutschen Schnellladenetzes für Elektroautos. Lohnt sich das?
Wir sind dort Marktführer und darauf sehr stolz. Derzeit ist das ein Markt, bei dem sich die Erträge erst noch entwickeln werden. Wir investieren weiter, weil der Markt für Elektrofahrzeuge wachsen wird.
Reichen dafür die Stromnetze? Vor allem wenn Elektrolastwagen dazukommen?
Das müssen wir beim Umbau des Netzes beachten. In Feldversuchen simulieren wir den Hochlauf von E-Autos in verschiedene Szenarien. Aktuell sind Elektroautos keine Belastung. Für die Zukunft braucht es aber die Modernisierung und den Ausbau der Netze sowie ein intelligentes Lastmanagement.