Ekrem Imamoğlu: Autokraten schauen voneinander ab
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In Russland ist
Anfang des Jahres Wladimir Putins Widersacher Alexej Nawalny, der wegen bizarrer Vorwürfe wie Extremismus und Veruntreuung zu langjähriger Straflagerhaft verurteilt worden war, unter unbekannten Umständen in Haft gestorben. Im Sommer ließ der venezolanische Staatspräsident Nicolás Maduro ein Sondergericht einen Haftbefehl
gegen Oppositionsführer Edmundo González ausstellen, woraufhin dieser das Land
verlassen musste. Nun schickt sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan an,
den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, der in Meinungsumfragen vorn liegt, endgültig inhaftieren zu lassen. Die Methoden dieser autokratisch Regierenden mögen unterschiedlich stark menschenverachtend sein, ähneln sich jedoch: Mithilfe von willfährig gemachten Strafverfolgungsbehörden und Gerichten sollen die stärksten politischen Kontrahenten erst als Staatsfeinde diskreditiert und dann eingesperrt werden.
Ekrem Imamoğlu ist es
als Einzigem gelungen, der Partei AKP des türkischen Präsidenten drei
Niederlagen in Folge beizubringen im Laufe von Erdoğans 22 Jahren an der Macht. Als İmamoğlu 2019 in Istanbul mit 48,8 Prozent aus
den Kommunalwahlen als Sieger hervorging, ließ Erdoğan die Wahl annullieren. Bei der Neuwahl zwei Monate später konnte İmamoğlu
allerdings seinen Vorsprung ausbauen und gewann erneut.
Das war ein herber Schlag für Erdoğan, der die von ihm gepflegte Aura gefährdete, in Wahlen unschlagbar zu
sein. Bei den jüngsten Kommunalwahlen im März dieses Jahres holte İmamoğlu über
51 Prozent und bewies damit seine ungebrochene Popularität. In seiner
sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP gewann İmamoğlu ebenfalls weiter an Bedeutung. In
der Türkei, und nicht nur dort, betrachtet ihn nahezu jeder als natürlichen
CHP-Kandidaten für die 2028 anstehende Präsidentschaftswahl. Auch der deutsche Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier traf bei seiner Türkeireise im April dank eines ausgeklügelten
Programms zunächst in Istanbul mit İmamoğlu zusammen, bevor er in Ankara mit
Erdoğan sprach. Das wurde als diplomatische Botschaft Steinmeiers ausgelegt. Bei CDU-Chef
Friedrich Merz, der voraussichtlich im Oktober die Türkei besuchen wird, stehen
ebenfalls Treffen mit Erdoğan wie auch mit İmamoğlu auf dem Programm.
Das alles geht Erdoğan gegen den Strich. Dessen Laufbahn in der Politik
begann einst in den Neunzigerjahren ebenfalls als Oberbürgermeister von Istanbul, sein damaliger Erfolg
brachte ihn anschließend zunächst ins Amt des Ministerpräsidenten und von dort in den
Präsidentenpalast. Der 54-jährige İmamoğlu, der gleich Erdoğan aus einer
konservativen Familie vom Schwarzen Meer stammt, versteht es, breite Kreise
in der Bevölkerung anzusprechen und Massen zu begeistern. Er könnte Erdoğans Thron ins Wanken
bringen. Dessen Plan, durch Beschneidung kommunaler Ressourcen İmamoğlu bei der
Bevölkerung in Ungnade fallen zu lassen, schlug fehl. Also setzte Erdoğan seine
Waffe der juristischen Schikane ein.
Im Jahr 2019 hat İmamoğlu in einer Rede in Straßburg die Annullierung der Istanbul-Wahl
kritisiert, woraufhin ihn der damalige Innenminister als „Idiot“ bezeichnete,
der sich bei Europa über die Türkei beschwere. İmamoğlu konterte: „Idioten sind
jene, die die Wahl vom 31. März annulliert haben.“ Damit adressierte er
vermutlich den politischen Willen, doch offenbar fühlten sich auch die Mitglieder des
Hohen Wahlrats angesprochen, die für den Beschluss zur Annullierung verantwortlich
zeichneten. Das anschließende Verfahren ging als „Idiotenprozess“ in die
politische Geschichte der Türkei ein. Es endete 2022 mit der Verurteilung İmamoğlus zu zwei Jahren und sieben Monaten Haft wegen Beamtenbeleidigung.
Hinzu kam ein Verbot politischer Betätigung. Das Urteil wurde als politisch motiviert
gewertet, die führende Oppositionspartei hielt eine große Protestkundgebung
dagegen ab. İmamoğlu ging in Berufung. Seine politische Zukunft wäre in Gefahr, sollte das Berufungsgericht nun das Urteil bestätigen.
Die Geschichte
wiederholt sich: Auch Erdoğan ist einst als Istanbuler Oberbürgermeister von
Richtern – die unter dem Einfluss des damals noch allmächtigen türkischen Militärs standen – zu einer Haftstrafe verurteilt worden,
zehn Monate wegen Volksverhetzung. Die Strafe ließ
ihn aber keineswegs in Vergessenheit geraten, vielmehr erhöhte sie seine
Popularität. Dass er nun, ein Vierteljahrhundert später, trotz dieser
Erfahrung versucht, mit seinem stärksten Kontrahenten auf dieselbe Weise zu verfahren,
werten manche als politisches Vabanquespiel Erdoğans. Eine Bestätigung der Verurteilung würde İmamoğlu
nämlich eher zum Helden machen und könnte ihn, genau wie einst Erdoğan, ins Amt des
Staatspräsidenten befördern. Andere hingegen meinen, İmamoğlus Aufstieg werde durch eine Verurteilung einen Rückschlag erleiden.
Die Botschaft an die Welt
Dieser Tage wird
das Urteil der Berufungsinstanz erwartet. Die Oppositionspartei CHP bereitet
derweil eine Gegenmaßnahme vor: Sollte das Urteil bestätigt werden, könnte sie İmamoğlu zum Präsidentschaftskandidaten küren. Die Botschaft an die
Welt hieße dann: Erdoğan lässt seinen Herausforderer durch eine politisch motivierte Justiz verfolgen. Eventuell trifft der CDU-Chef Merz dann in wenigen Wochen in Istanbul mit einem endgültig verurteilten
Oppositionsführer zusammen. Das würde weltweit wie auch in der Türkei natürlich
ein erhebliches politisches Echo nach sich ziehen.
Derzeit studiert die CHP die
Proteste der Opposition in Mexiko, die nach der dortigen Präsidentschaftswahl 2006 Millionen Menschen zu Protesten auf die Straße brachte. Die von Andrés Manuel López Obrador angeführte Opposition hatte mögliche Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung angeprangert, deren Ergebnis Felipe Calderón knapp vor López Obrador sah. Letzterer forderte die Neuauszählung aller Wahlzettel. Das mexikanische Bundeswahlgericht hingegen entschied, nur einen kleinen Teil davon erneut auszählen zu lassen. Die Opposition sah darin ein politisch motiviertes Urteil, Calderón wurde schließlich Präsident. Zwei Wahlen und zwölf Jahre später jedoch gewann López Obrador 2018 die mexikanische Präsidentschaftswahl unangefochten.
Wie eingangs erwähnt, schauen
Autokraten voneinander ab. Dasselbe aber tun auch Oppositionelle.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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In Russland ist
Anfang des Jahres Wladimir Putins Widersacher Alexej Nawalny, der wegen bizarrer Vorwürfe wie Extremismus und Veruntreuung zu langjähriger Straflagerhaft verurteilt worden war, unter unbekannten Umständen in Haft gestorben. Im Sommer ließ der venezolanische Staatspräsident Nicolás Maduro ein Sondergericht einen Haftbefehl
gegen Oppositionsführer Edmundo González ausstellen, woraufhin dieser das Land
verlassen musste. Nun schickt sich der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan an,
den Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, der in Meinungsumfragen vorn liegt, endgültig inhaftieren zu lassen. Die Methoden dieser autokratisch Regierenden mögen unterschiedlich stark menschenverachtend sein, ähneln sich jedoch: Mithilfe von willfährig gemachten Strafverfolgungsbehörden und Gerichten sollen die stärksten politischen Kontrahenten erst als Staatsfeinde diskreditiert und dann eingesperrt werden.