Eine Berliner Organisation nutzt soziale Netzwerke, um Migrierenden zu helfen

Ursprünglich sollte das Internet ein Netzwerk im wahrsten Sinne des Wortes sein: ein dezentralisierter Ort der Gleichheit und der Verbindung, der zeigt, dass wir alle auf der Welt in Beziehung zueinander stehen. Unsere digitalen Räume haben sich jedoch weit von dem utopischen Ideal entfernt, dem das World Wide Web bei seiner Entstehung entsprechen sollte. Das „Scrollen“ führt uns geradewegs in Angstzustände und Depressionen. Um das Online-Engagement zu steigern, stützen sich die Algorithmen der Social-Networking-Plattformen auf extreme Emotionen wie Wut. Sie isolieren und spalten die Nutzer bei (politischen) Themen, und Filterblasen fördern Hass und Polarisierung.

Wir sind uns zwar der negativen Auswirkungen der sozialen Netzwerke bewusst, aber unsere Gesellschaft hängt teilweise von diesen Plattformen ab. Die traditionellen Medien haben ausgedient: Unternehmen stürzen sich auf Plattformen wie Instagram oder TikTok, um ihre Produkte und Dienstleistungen zu bewerben, und „Youtuber“ ist zum Traumberuf eines Drittels der jungen Generation geworden.

Ob wir nun ein Restaurant für heute Abend suchen, unseren Freunden erzählen, wie unser letztes Date gelaufen ist, oder uns mithilfe einer Authentifizierungs-App bei der Arbeit anmelden – wir brauchen unsere kleinen Bildschirme, um in dieser verrückten Welt zu überleben. Aber das sind nicht die einzigen Gründe, warum wir auf soziale Netzwerke angewiesen sind. Für Geflüchteten- und Eingewandertengemeinschaften ist die Nutzung sozialer Netzwerke eine Frage von Leben und Tod.

Wichtigste Informationsquelle

Die Bedeutung von Smartphones für Geflüchteten- und Migrierendengemeinschaften zeigte sich zuerst im Jahr 2015, als die Geflüchtetenkrise in Syrien ausbrach. Die Betroffenen nutzten ihre Telefone, um über Apps wie WhatsApp und Messenger mit ihren Angehörigen in Kontakt zu bleiben, um Recherchen durchzuführen und Nachrichten zu verfolgen. Für einige Geflüchtete sind Telefone und externe Akkus zu einem menschlichen Grundbedürfnis geworden, noch wichtiger als Nahrung.

Heute ist diese entscheidende Abhängigkeit von sozialen Netzwerken für bedürftige Gemeinschaften stärker präsent denn je. Zum Beispiel sind soziale Netzwerke die wichtigste Informationsquelle für ukrainische Geflüchtete in Deutschland. Dabei geht es insbesondere darum, sich über das Fortschreiten des Krieges auf dem Laufenden zu halten, aber auch darum, mehr über das Gastland zu erfahren.

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Wenn die Migrierenden in einem Land ankommen, verschwinden die Schwierigkeiten nicht, sondern fangen erst an. Für die meisten ist es der Beginn eines langen Prozesses der Integration. In Europa gehen die meisten dieser Menschen nach Deutschland. Nicht nur, weil Deutschland gemessen am BIP die größte Volkswirtschaft in der EU ist, sondern auch, weil es das Land ist, das jedes Jahr die meisten Eingewanderten aufnimmt.

Ein Weg mit vielen Hindernissen

Der Weg zur Integration in Deutschland ist mit Hindernissen gepflastert. Zunächst muss man eine Unterkunft und etwas zu essen finden. Darüber hinaus haben Neuankömmlinge Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu finden, ihre Kinder in die Schule zu schicken und die Funktionsweise ihres Gastlandes zu verstehen.

Die Sprachbarriere spielt in diesem Prozess eine wichtige Rolle: Wie kann man das Recht auf Gesundheitsversorgung und einen Hausarzt in Anspruch nehmen, wenn man kein Deutsch spricht? Wie meldet man seine Kinder in einer neuen Schule an? Wie findet man bei der aktuellen Wohnungskrise in Europa eine Wohnung? Wie erträgt man die diskriminierenden Bemerkungen des Nachbarn? Sie haben es wahrscheinlich schon erraten: Für viele liegt die Lösung in den sozialen Netzwerken.

Die Organisation Minor – Projektkontor für Bildung und Forschung hat diese Herausforderung verstanden. Minor ist ein zivilgesellschaftlicher Akteur mit Sitz in Berlin, der an einer Vielzahl von Projekten zur Stärkung der Demokratie und des sozialen Zusammenhalts arbeitet und dabei den Schwerpunkt auf Migration legt.

Unterstützung von Migrierenden für Migrierende

Das Besondere an dieser Organisation ist das Prinzip der Unterstützung von Migrierenden für Migrierende: Die meisten Beschäftigten haben eine Migrationsgeschichte in der Familie oder sind selbst Migrierende. Daher versteht die Organisation die Bedürfnisse der Migrierenden- und Geflüchtetengemeinschaften sehr gut. Die Beschäftigten unterstützen diese Gemeinschaften nicht nur, sondern gehören ihnen selbst an.

Die Teams von Minor erkannten die Bedeutung sozialer Netzwerke für den Integrationsprozess dieser Gemeinschaften in Deutschland. Sie entwickelten zwei Projekte zur Integration dieser Dienste und zur Nutzung sozialer Netzwerke als Hilfsinstrument. Beide wurden von den deutschen Behörden und dem Europäischen Sozialfonds + (ESF[1] +) finanziert. Diese Projekte tragen die Namen „Social Media Street Work“ (SoMS) und „Social Media Bridge“ (SoMB). SoMS konzentriert sich auf aus den verschiedenen EU-Ländern Zugewanderte in Deutschland, während SoMB sich um die Unterstützung von Geflüchteten kümmert. Die Projekte sind im Jahr 2022 angelaufen und zielen darauf ab, „Menschen am Rande der Gesellschaft“ zu integrieren, indem zu ihnen über soziale Netzwerke Kontakt hergestellt wird.

Das SoMS-Projektteam besteht aus sechs Personen mit sieben Arbeitssprachen: Deutsch, Polnisch, Rumänisch, Bulgarisch, Kroatisch, Englisch und Italienisch – diese Sprachen decken die wichtigsten Migrierendengruppen unter den EU-Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ab. Die beiden Projekte arbeiten eng zusammen: Die Teams teilen sich ein Büro und organisieren regelmäßige Treffen, um ihre Erfahrungen und ihr Wissen auszutauschen. In Bezug auf ihre Arbeit verfolgen die Projekte die gleiche systematische Strategie, um relevante Fragen online zu finden.

Antworten auf die Fragen von Migrierenden

Zunächst machen die Teams die Plattformen ausfindig, auf denen die betreffenden Gemeinschaften am aktivsten sind. Denn nicht alle Zielgruppen nutzen dieselben Plattformen und Räume. Die meisten Geflüchteten- und Migrierendengemeinschaften nutzen (geschlossene) Facebook-Gruppen, die von den Geflüchtetengemeinschaften selbst gegründet wurden. Da Telegram jedoch die wichtigste von Ukrainerinnen und Ukrainern genutzte Plattform ist, sind die ukrainischsprachigen Teammitglieder hier am aktivsten.

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Auf den Plattformen suchen die Teams nach beliebten Wörtern und Hashtags, um relevante Online-Räume zu finden, und treten diesen mit dem Konto der Organisation bei. Anschließend suchen die Mitglieder der SoMS- und SoMB-Teams innerhalb dieser Räume nach Fragen zum Integrationsprozess, die noch unbeantwortet sind oder auf die falsche Antworten gegeben wurden.

Dieser Ansatz hat Vor- und Nachteile. Zum einen können sich Trolle überall im Internet einnisten – selbst in kleinen, geschlossenen Räumen. Sabina, die sich um die kroatische und englische Gemeinschaft kümmert, erinnert sich: „Es ist anders, wenn man mit Menschen im wirklichen Leben zusammenarbeitet. Es wird immer jemanden geben, der nicht mit dem einverstanden ist, was man schreibt. Sie fragen sich dann: ‚Wer ist diese Person?‘. Gegenüber sozialen Netzwerken herrscht großes Misstrauen.“

Das ist verständlich: Das Konzept und der Ansatz von Minor sind neu, und bei all dem, was man über soziale Netzwerke hört, ist es nicht verwunderlich, dass die Menschen Initiativen, die diese Plattformen nutzen, misstrauen.

Häusliche Gewalt

Das Leben vieler Menschen hängt jedoch von diesen Räumen ab. Sabina fährt fort: „Ich war mit einem Fall von häuslicher Gewalt konfrontiert. Eine Frau schrieb mir, um zu erfahren, was sie tun sollte. Ich sagte ihr, sie solle die Polizei anrufen, und gab ihr Kontaktdaten von Frauenhäusern und Hotlines für Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden sind.“

Ein wichtiger kultureller Unterschied zwischen den Balkanstaaten und Deutschland ist das Vertrauen in die Polizei: In diesem Fall versicherte Sabina der Frau, dass die Polizei sich um die Situation kümmern würde. „Sie ging am nächsten Tag zum Gericht und informierte mich über ihre Situation und die Schwierigkeiten, auf die sie stieß. Zusammen mit anderen Frauen aus der Gruppe haben wir ihr immer wieder geschrieben, sie unterstützt und sie daran erinnert, dass sie nicht allein ist.“

Dies zeigt, dass, obwohl soziale Netzwerke für die meisten von uns eine Form von Unterhaltung sind, die sich manchmal als toxisch für unser Wohlbefinden erweisen kann, einige Online-Räume immer noch Werte der Verbundenheit verteidigen und Leben retten können. Für Frauen wie die in Sabinas Geschichte sind diese Räume manchmal die einzige Form von Unterstützung, die sie erhalten. Es ist wichtig, dass Akteure wie Minor die Nutzung von sozialen Netzwerken in ihre Dienstleistungen integrieren.

Die Projekte SoMS und SoMB bieten nicht nur Online-Beratung, sondern auch Orientierungshilfe. Beide sind Teil eines größeren Netzwerks von Hilfsangeboten für Geflüchtete und Zugewanderte in Deutschland. SoMS ist Teil von EhAP Plus, einem Netzwerk von Projekten, die aus dem ESF+ und vom deutschen Ministerium für Arbeit und Soziales finanziert und durch das EU-Gleichbehandlungsbüro bei der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration mitfinanziert werden. Andere Projekte des Netzwerks umfassen persönliche Beratungsdienste, die in kleineren Gemeinschaften im ganzen Land angeboten werden.

SoMS-Mitarbeitende haben sich auch mit BAG Wohnungslosenhilfe e.V zusammengetan, einer Initiative, die sich auf die Bekämpfung der Obdachlosigkeit und die Unterstützung von Menschen, die obdachlos sind oder von Obdachlosigkeit bedroht sind, konzentriert. SoMB ist Teil von WIR, einem Netzwerk, das Geflüchtete entsprechend ihrer Qualifikationen in den regionalen Arbeitsmarkt integriert.

Wenn eine Person in ihrer Online-Frage ihren Standort angibt, informieren die SoMB- und SoMS-Teams sie über die lokalen und persönlichen Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen. Personen, die keinen Zugang zu lokalen Diensten haben, bieten die Mitglieder der SoMB- und SoMS-Teams digitale Alternativen an, um die Lücken zu schließen. Dabei nutzen sie die zunehmende Abhängigkeit von unserem digitalen Leben, um denjenigen zu helfen, die es in der realen Welt am nötigsten haben.

Eine der größten Schwierigkeiten, mit denen die Teams von Minor zu kämpfen haben, ist die Reichweite ihrer Projekte. Die Menschen, denen sie helfen, sind bereits Teil von Online-Gemeinschaften, die wissen, wie sie sich über soziale Netzwerke Hilfe holen können. Das schließt Mitglieder der Gemeinschaft aus, die vielleicht Schwierigkeiten haben, diese Netzwerke zu finden. Deshalb bemühen sich die Projekte, auf den bestehenden Plattformen für soziale Netzwerke bekannt zu werden.

Mit TikTok Analphabetinnen und Analphabeten erreichen

Darüber hinaus wurde den Teams von Minor bei einem Treffen mit anderen sozialen Organisationen in Berlin bewusst, dass die Menschen, die am meisten in Not sind, oft Analphabetinnen oder Analphabeten sind. Es ist daher noch unwahrscheinlicher, dass sie eine Form von Sicherheit im Internet finden, wo schriftliche Veröffentlichungen üblich sind.

Aus diesem Grund nutzt Minor derzeit TikTok als zusätzliche Plattform, um die Reichweite seiner Arbeit zu maximieren. Die Idee besteht darin, Videos mit nützlichen Informationen, wie z. B. die Beantragung von Arbeitslosengeld oder Kinderbetreuung, für in Deutschland neu Angekommene zu erstellen. Da sich die sozialen Netzwerke ständig weiterentwickeln, müssen sich Akteure der Zivilgesellschaft wie Minor anpassen und weiterhin innovativ sein.

Die vom ESF+ finanzierten Projekte des Projektkontors Minor beweisen, dass soziale Netzwerke – im Guten wie im Schlechten – im Integrationsprozess wesentlich geworden sind und dass sie für positive anstatt für negative Zwecke genutzt werden können. Darüber hinaus verweisen die Projekte bedürftige Personen bei Bedarf an persönliche Dienste, was ebenfalls zeigt, wie wichtig Unterstützung und Verbindungen im realen Leben sind. Das Internet und die sozialen Netzwerke werden ohnehin bleiben – warum also nicht über Initiativen wie diese nachdenken, die mit Hilfe innovativer Lösungen einen positiven Wandel herbeiführen wollen.