Ein Jahr Waffenstillstand: Droht ein neuer Krieg im Libanon?

Eine Frau nimmt Wäsche ab, die auf einem Trümmerhaufen aufgehängt ist während eine andere Blumen gießt.

Stand: 27.11.2025 12:50 Uhr

Vor einem Jahr begann die Waffenruhe zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon. Doch fast täglich wird sie von Israel gebrochen. Und die Miliz hat sich noch immer nicht entwaffnen lassen. Wie viel ist das Abkommen noch wert?

Nahezu jeden Tag beschießt Israel den Libanon, vor allem mithilfe von Drohnen, die gezielt Autos oder Häuser ins Visier nehmen. Und das trotz der offiziellen Waffenruhe, die vor einem Jahr in Kraft trat.

Fast jedes Mal gibt es Tote, oft auch Zivilisten. Erst vor wenigen Tagen starben in der Stadt Sidon mindestes 13 Menschen. Zuletzt griff Israel auch die südlichen Vororte der Hauptstadt Beirut an und tötete dort unter anderem den Generalstabschef der Schiitenmiliz Hisbollah, Haitham Ali Tabatabai.

Die UN-Blauhelmmission UNIFIL hat seit Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens vor einem Jahr mehr als 10.000 Verstöße der Waffenruhe gezählt und wurde auch selbst mehrmals beschossen. „Wir können von einer Waffenruhe auf dem Papier sprechen – das wird aber auf nahezu täglicher Basis gebrochen“, sagt Kristian Brakel von der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.

Bei den israelischen Drohnenangriffen gehe es nicht nur um die Tötung von Hisbollah-Mitgliedern, sondern auch um Luftschläge gegen Infrastruktur oder gegen den Versuch, zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen, so Brakel.

Gefühl, ausgeliefert zu sein

Auf den Straßen in Beirut herrscht Wut auf Israel. „Dieser Waffenstillstand ist gescheitert“, sagt ein Anwohner namens Bashir. „Täglich greift Israel den Süden an. Wir sind doch ein eigener Staat. Sie tun, was sie wollen.“ Ein Mann mit dem Namen Kareem ergänzt: „Das ist eine Kapitulation, weil nichts von dem Abkommen zum Waffenstillstand umgesetzt wird. Jeden Tag gibt es Angriffe Israels, Tote und die Zerstörung von Häusern. Und die internationale Gemeinschaft schaut tatenlos zu und greift nicht ein.“

Viele Menschen im Libanon fühlen sich ausgeliefert. Das Land scheint weiterhin Spielball im Konflikt zwischen Israel und dem Iran zu sein. „Es liegt nicht mehr in unserer Hand“, sagt Rechtsanwaltsgehilfe Mohammed. „Andere Länder entscheiden, ob es einen weiteren Krieg geben wird oder nicht.“

Denn die Hisbollah-Miliz ist direkter Arm des Iran in der Region. Eine Entwaffnung lehnt die Hisbollah entgegen vorheriger Versprechen ab. Ihr Chef Naim Kassem erklärte: „Wer behauptet, der Widerstand sei ein Problem, weil er nicht kapituliert, ist bereit, das Land an Israel auszuliefern.“

Droht ein neuer Krieg?

Steht ein weiterer Krieg vor der Tür, womöglich sogar der Einsatz von israelischen Bodentruppen im Libanon?

Der israelische Premier Benjamin Netanjahu warnt deutlich: Sollte die Hisbollah nicht von der libanesischen Regierung und Armee entwaffnet werden oder freiwillig die Waffen abgeben, würde Israel das selbst übernehmen. Denn die Miliz drohe wieder zu erstarken und könnte sonst im Kampf gegen Israel erneut aufrüsten, so die Argumentation.

Beobachter sagen, Netanjahu wolle den Umstand nutzen, dass die Hisbollah seit dem Krieg im vergangenen Jahr so geschwächt ist wie lange nicht. Derzeit beschießt sie Israel aktuellen Berichten zufolge nicht mehr und genießt international wenig Rückhalt. Und auch der Iran hat massiv an Einfluss in der Region verloren.

Libanesische Regierung hilflos

Die Lage im Libanon ist festgefahren: Der libanesische Präsident Joseph Aoun wird von den USA und Israel unter Druck gesetzt, das Abkommen umzusetzen und die Hisbollah zu entwaffnen. Doch die libanesische Armee ist schwach.

Und die Hisbollah ist noch immer fest in der libanesischen Gesellschaft verankert, wie ein Staat im Staate: sie ist politische Kraft, Wirtschaftsmacht und erbringt Sozialleistungen für die Bevölkerung. Die Gefahr, bei zu viel innenpolitischem Druck auf die Hisbollah erneut einen Bürgerkrieg im Land auszulösen, ist real.

Daher wirkt das Vorgehen der Staatsführung hilflos und halbherzig. In Appellen wiederholt Präsident Aoun: „Es ist meine Pflicht, die historische Chance zu ergreifen und darauf zu drängen, dass der Waffenbesitz ausschließlich der Armee und den Sicherheitskräften vorbehalten bleibt – und niemandem sonst.“ Dies gelte für das gesamte libanesische Staatsgebiet – „damit wir das Vertrauen der Welt zurückgewinnen“.

Diesen Sonntag wird Papst Leo XIV. auf seiner ersten Auslandsreise im Libanon erwartet. Viele Menschen dort erhoffen sich nun von ihm eine klare Botschaft für echten Frieden.

Source: tagesschau.de