Doku | „No Other Land“ dokumentiert Besatzung im Westjordanland: Bagger qua Monster

Der auf der Berlinale 2024 ausgezeichnete Film „No Other Land“ zeigt mit Szenen im Westjordanland den Israel-Palästina-Konflikt wie unter einem Vergrößerungsglas


Szene aus dem Dokumentarfilm „No Other Land“

Foto: Antipode Film



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Unweigerlich neigt man dazu, diesen Film mit dem Verweis auf den Skandal vorzustellen, der rund um die Berlinale-Preisverleihung im vergangenen Februar entstand. Obwohl die Dankesreden seiner beiden Regisseure großen Anteil daran hatten – kein Film, erst recht kein Dokumentarfilm, ist völlig identisch mit den Ab- und Ansichten seiner Schöpfer*innen. Die Aufregung – sowohl der berechtigte Ärger über die Einseitigkeit der Bemerkungen auf der Bühne als auch die überflüssigen Schuldzuweisungen drum herum – brachte aber einen interessanten Aspekt des Films zum Verschwinden.

No Other Land von Yuval Abraham und Basel Adra erhielt zwei ganz unterschiedliche Preise dieser Berlinale: den Dokumentarfilmpreis des Festivals und den Panorama-Publikumspreis. Der Unterschied zwischen ihnen liegt darin, dass der eine von einer dreiköpfigen Jury vergeben wird – zu der im Februar noch der keine drei Monate später verstorbene Regisseur Thomas Heise gehörte – und der andere Resultat einer Abstimmung der Festivalbesucher ist. Bei dem einen diskutieren Fachmenschen intensiv und wägen Filme gegeneinander ab. Beim anderen kommen Besucher aus dem Kino und werfen eine ausgefüllte Karte in eine Box. Ein Film, der das Votum sowohl von Jury wie Publikum gewinnen kann, hat auf jeden Fall eins: Wirkungskraft.

Der Hinweis darauf, dass hinter No Other Land ein israelisch-palästinensisches Kollektiv stehe, führt dabei ein bisschen in die Irre. In diesem Film geht es nicht um verschiedene Perspektiven auf den Israel-Palästina-Konflikt. Im Gegenteil, No Other Land verengt absichtsvoll den Bildausschnitt auf eine bestimmte Gegend im Westjordanland und lässt Erklärungen von außen weitgehend beiseite. Die Kamera ist unmittelbar vor Ort in Masafer Yatta einer Ansammlung von palästinensischen Dörfern, in denen die Ansässigen sich seit Jahrzehnten gegen israelische Räumungsanordungen wehren. Ein Großteil der Szenen des Films stammt aus der Handykamera des jungen palästinensischen Aktivisten Basel Adra, der es seit Jahren aufzeichnet, wenn israelische Abreißbagger anrücken und Familienhäuser und Schulgebäude mit scheinbarer Willkür zerstören.

Beide haben eine Doppelrolle

Adra filmte auch schon, bevor er das israelische Filmteam Yuval Abraham und Rachel Szor kennenlernte, die 2019 nach Masafer Yatta kamen, um die israelische Besatzungs- und Siedlungspolitik kritisch zu dokumentieren. So wurde Adra gleichzeitig zum Protagonisten und Regisseur von No Other Land. Eine Doppelfunktion, die nominell auch sein israelisches Gegenstück Yuval Abraham einnimmt, mit dem Unterschied, dass Abraham vor der Kamera nur dann zu sehen ist, wenn er sich mit Adra oder in wenigen, intensiven Szenen mit Hamdan Ballal, einem weiteren palästinensischen Aktivisten, unterhält. Jenseits seines Engagements erfährt man im Film so gut wie nichts über Abraham.

Seine Wirkung verdankt der Film in erster Linie den Baggerbildern: Wenn sich die Schaufeln wie gefräßige Monster über Gebäude hermachen, in denen eben noch Menschen wohnten, die sowieso nicht viel haben, scheinen Unrecht und Gewalt unmittelbar abgebildet und sorgen für die entsprechende emotionale Reaktion. An einer Stelle – der Film umfasst Material von 2019 bis 2023 – sieht man, wie israelische Soldaten einen Mann anschießen, der sich dagegen wehrt, dass man ihm den Generator wegnimmt. Seine Mutter und ihre zunehmende Entgeisterung über anreisende Journalisten, die sich scheinbar für das Schicksal ihres seither gelähmten Sohns einsetzen, ohne dass daraus je etwas folgt, werden zu einer Art Leitthema des Films.

In etwas gestellt wirkenden Szenen unterhalten sich Abraham und Adra zwischendurch über Dinge wie die Länder, in die sie gerne reisen würden, und ihre Heiratsaussichten. Mal um Mal versanden die Gespräche ob der Diskrepanz ihrer jeweiligen Lebensumstände. Ist eine Freundschaft hier überhaupt möglich? Aktivist Ballal stellt an einer Stelle das Projekt des Films selbst infrage. Wie soll er hier mit Abraham zusammenarbeiten, wenn es dessen Bruder sein könnte, der im nächsten Bagger sitzt oder auf ihn schießt?

No Other Land Basel Adra, Yuval Abraham, Hamdan Ballal, Rachel Szor Palästina/Norwegen 2024, 96 Minuten