Diskurs | Bürgergeld: Wehe, wenn Lindner Ideen hat

Das gesellschaftliche Klima verschärft sich, zugleich tun sich neue Haushaltslücken auf. Und was fällt Regierung und Opposition offenbar immer als Erstes ein? Arme ausgrenzen und beim Bürgergeld weiter zu kürzen


Auf diese Weise wird man das Loch im Bundeshaushalt voraussichtlich nicht stopfen können

Foto: Stocksy


Was könnte dran sein, wenn die Bild-Zeitung einen „Bürgergeld-Irrtum enthüllt“ haben will und sich von diesem „Bürgergeld-Schock“ kaum mehr zu erholen scheint? So geschehen vergangene Woche, verbreitet in Windeseile, getragen von der großen Sorge „Macht Bürgergeld träge?“

Ausgangspunkt der Berichterstattung war eine Kleine Anfrage des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) im Bundestag. Die Antwort der Bundesregierung enthielt einige Zahlen, die seit Jahren in etwa dieser Größenordnung bekannt sind. Normalerweise also null Nachrichtenwert: Rund die Hälfte der Bürgergeldbeziehenden, die eine bezahlte Arbeit aufnehmen, sind nach sechs Monaten weiter oder wieder auf Bürgergeld angewiesen. Die Bild machte einen Skandal daraus, indem sie aus Zahlen Erregung spann: 777.000 Menschen, die eine Arbeit aufgenommen haben, stehen vier Millionen erwerbsfähige Bürgergeldbeziehende gegenüber! Und: Fast die Hälfte derer, die weiter oder wieder Bürgergeld beziehen, sind „Ausländer“. Schockschwerenot!

Der Subtext war klar: Warum zur Hölle nehmen nur knapp 800.000 von vier Millionen eine Arbeit auf? Wieso wagt es rund die Hälfte, den Job nach wenigen Monaten wieder hinzuschmeißen? Und wieso sind von denen auch noch etwas mehr als die Hälfte gar keine Deutschen – was haben die in unserem Sozialsystem verloren!? Darauf einen Schnaps.

Nur 1,7 von vier Millionen stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung

Die Bild-Berichterstattung ist nicht nur unterkomplex wie eh und je, sie gießt in Zeiten zunehmender Polarisierung und anschwellender Verteilungskämpfe auch Öl ins Feuer des Diskurses. Denn natürlich verrät die Statistik nichts über Hintergründe: Warum haben diese Menschen ihren Job verloren? Haben oder wurden sie gekündigt? Wurden sie überhaupt ausreichend bezahlt, um vom Bürgergeld unabhängig zu werden? Oder waren es nur Teilzeit- oder befristete Jobs?

Und dann war da noch ein unterschlagenes Detail bei den „Skandal“-Zahlen. Die Bezugsgröße „vier Millionen“ ist bewusst falsch gewählt. Denn aus der Gesamtzahl der Menschen im Bürgergeld stehen nur 1,7 Millionen dem Arbeitsmarkt tatsächlich zur Verfügung, die meisten davon nur teilweise, weil sie unbezahlte Care-Arbeit leisten, in Ausbildung oder krank sind.

Menschen ohne Aktiendepot

Solche Lebenswirklichkeiten werden ausgeblendet. Stattdessen wird unterstellt, die Menschen würden ihre Jobs einfach hinschmeißen. Weil: kein Bock. Dabei ist das ohne rechtfertigenden Grund schwierig. Eine Arbeit aus freien Stücken aufzugeben, wird als „sozialwidriges Verhalten“ hart sanktioniert. Man landet wieder im (auch nicht gerade kuscheligen) Jobcenter und muss von vorne durch die Vermittlungs-Mühle. Aber auch Menschen ohne Aktiendepot haben ein Grundrecht auf Berufsfreiheit. Es wäre noch nicht einmal skandalös, wenn sie davon Gebrauch machten; skandalös ist es, wenn sie dafür gesellschaftliche Schmähung und auch noch Sanktionen durch das Jobcenter erfahren.

Doch auf den „Bürgergeld-Schock“ folgte bald der logisch nächste Schritt.

Christian Lindner, FDP-Finanzminister und König der sozialen Kälte, verkündete am Tag nach der Bild-Berichterstattung, er wolle weitere Milliarden kürzen, natürlich beim Bürgergeld. Genau hier wurden in den vergangenen Monaten aber schon alle Einsparungsmöglichkeiten ausgelotet: Im Frühjahr wurden sogar die vom Bundesverfassungsgericht untersagten Totalsanktionen beim wiederholten Ablehnen einer Arbeit wieder eingeführt. Dummerweise bringt das so gut wie nichts, weil sich ohnehin fast niemand traut, eine Arbeit abzulehnen. Trotzdem wurden Anfang des Jahres alle Zumutbarkeitsregelungen auf Anschlag gedreht und die Sanktionen noch weiter verschärft. Lindner hat sich jetzt noch was Neues ausgedacht: Für Wohnung und Nebenkosten solle es nur noch eine Pauschale statt der Kostenübernahme geben. Wenn die Pauschale nicht reiche, könnten die Leute ja „selbst entscheiden“, wie viel sie heizen oder ob sie in eine kleinere Wohnung umziehen wollen. Als wäre das in deutschen Städten heute eine realistische Option.

100 Euro weniger für Ukrainer und Ukrainerinnen?

325.000 Haushalte im Bürgergeld, darunter viele Alleinerziehende oder Familien mit Kindern, zahlen jetzt schon jeden Monat im Schnitt 103 Euro aus dem spärlichen Bürgergeld-Regelsatz zur Miete dazu. Würde Lindners Idee realisiert, säßen unzählige Menschen mehr mit knurrenden Mägen am Küchentisch. Tausende würden in der Obdachlosigkeit landen. Aber Lindner wollte da noch nicht aufhören: Für Ukrainer*innen und ihre Kinder sollte künftig das Asylbewerberleistungsgesetz greifen, wodurch sie 100 Euro weniger bekämen.

Lindner wurde dann zum Abschluss der Woche noch mal richtig kreativ: Da wurde die Steuerschätzung für 2025 veröffentlicht. Die fiel ungünstigerweise um rund zwölf Milliarden Euro geringer aus als noch im Mai angenommen. Wie könnte man dieses Loch bloß stopfen? Ah, richtig! Bürgergeld kürzen! Lindner verkündete provokant, es mangele nicht an Ideen, Geld zu sparen, sondern nur an Einigkeit in der Regierung. Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag, ging da schon einen Schritt weiter: Man solle das Bürgergeld doch endlich überhaupt abschaffen. Ein kleiner Vorgeschmack auf von der Union geführte Regierungen ab 2025.

Mit etwas Abstand wirkt es skurril: Mit Leichtigkeit könnten Milliarden durch die Lockerung der Schuldenbremse aufgebracht werden, durch die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer oder die Anpassung der Erbschaftssteuer. Stattdessen prügeln Bild, FDP und die Union auf Bürgergeldbeziehende ein: Man müsse denen nur Beine machen, dann würden sie schon spuren.

Als Christian Lindner Insolvenz anmelden musste, wurde es teuer für den Staat

Eine kleine Anekdote zum Abschluss: Der heutige Finanzminister rühmt sich seiner unternehmerischen Erfahrung, die er als neoliberaler Jungspund gesammelt habe. Dabei ist es kein Geheimnis, dass sein im Jahr 2000 gegründetes Unternehmen bereits anderthalb Jahre später Insolvenz anmelden musste. Ein paar Millionen gingen dabei verloren: 30.000 Euro Startkapital von Lindner und seinen zwei Freunden, wie er aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Und zwei Millionen Euro Risikokapital, der Großteil davon aus der staatlichen Förderbank KfW. Die von Lindner und seinen zwei Spezis investierten 10.000 Euro pro Kopf flossen binnen kurzem als Geschäftsführergehalt wieder an die Boygroup zurück.

Verlierer der Insolvenz waren nicht Lindner und Co., sondern der öffentliche Haushalt. Existenziell war es für Lindner nie. Als der Laden Insolvenz anmeldete, war er als jüngstes Mitglied in der Geschichte des Landtags schon ins Düsseldorfer Parlament eingezogen – und lebt seither von Diäten. Wobei er vor allem mit Auftritten als Redner bei großen Konzernen beträchtliche Nebenverdienste erzielte.

Der Unterschied zwischen Lindner und den allermeisten Bürgergeldbeziehenden und Niedriglohnschuftern ist nicht die Leistungsbereitschaft, sondern der Zugang zu Darlehen, Krediten und Vorschussvertrauen. Den einen fehlt es an Zutrauen und Geld; dem anderen fehlt es an nichts. Scheitern muss man sich erst mal leisten können. All die Menschen im Bürgergeld sind vermutlich mit sehr viel kleineren Beträgen „gescheitert“ als unser heutiger Finanzminister. Ihnen wird ihr „Scheitern“ aber nicht als wertvolle Erfahrung zuerkannt, sondern als Armutsgrund. Die Maßstäbe für Leistung und Anerkennung könnten unterschiedlicher nicht sein.