„Die Simpsons“: Ja, die gibt es immer noch

Manche Menschen gucken Fernsehen, weil dort die Bundesliga läuft, weil man Heizdecken bestellen und sich nachts mit Hitler-Dokus die Träume verderben kann. Nicht Matthias Kalle. Unser Kolumnist guckt Fernsehen, um die Welt zu verstehen – und verrät ab sofort in seiner Kolumne „Kalle guckt„, was man wirklich gesehen haben muss. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 49/2022.

Vielleicht haben Sie es am Rande mitbekommen: Es findet ja
gerade die Fußballweltmeisterschaft der Männer statt, aber im Vergleich mit den
vergangenen Turnieren sind die Übertragungen in der ARD und im ZDF ein
Quotenflop. In der ersten Woche blieben alle WM-Spiele, auch das Spiel
Deutschland gegen Japan, unter der Zehn-Millionen-Grenze (gegen Spanien am
vergangenen Sonntag schauten dann doch 17 Millionen zu, aber vielleicht wollten
die nur mal gucken, was sie da eigentlich die ganze Zeit boykottieren). Trotzdem
haben die Senderverantwortlichen bisher nicht entschieden, die
Berichterstattung nach hinten zu verlegen, wie es in Fällen mangelnden
Zuschauerinteresses durchaus üblich ist, zum Beispiel auch gerade bei den Simpsons.

ProSieben hat vor Kurzem angekündigt, die im deutschen
Free-TV neusten Folgen der Serie ab dem 12. Dezember erst um 22.15 Uhr zu
zeigen und nicht wie bisher zur sogenannten Primetime. Moment mal! Die Simpsons? Ja, die gibt es immer noch, in den USA läuft gerade die
34. Staffel, auf Disney+ sind in Deutschland die Staffeln eins bis 33
verfügbar, aber irgendwie scheint die Ausstrahlung unter Ausschluss der
Öffentlichkeit stattzufinden. Wie konnte das passieren?

Im September 1991 (an einem Freitag, den 13.) lief im ZDF
die erste Folge der Simpsons. Ich war 16 Jahre alt und saß fassungslos vor dem
Fernseher, denn so etwas hatte ich noch nie gesehen. Drei Monate zuvor war die
deutsche Serie Die Wicherts von nebenan geendet, sie hatte eine ähnliche
Prämisse, nämlich vom Alltag einer Durchschnittsfamilie zu erzählen. Die
Ergebnisse konnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Während Die Wicherts an der gezeigten Kleinbürgerenge erstickten, atmeten die Simpsons pure Anarchie. Außerdem gab es in 20 Minuten mehr Gags,
als man sich merken konnten, um sie später in der Raucherecke mit den anderen
zu analysieren. Vor 30 Jahren haben die Simpsons das Fernsehen, wie wir es kannten, revolutioniert.

Die Revolution dauerte bis ungefähr 1999. Ihr Ende hat mehrere
Gründe. Zum einen explodierte die Art und Weise, wie Fernsehserien erzählt und
gedreht werden – 1999 starteten Die Sopranos und veränderten alles.
Gebrochene Charaktere, ironisches Erzählen, eine epische Herangehensweise in
der Struktur. Ein neuer Ton war gesetzt, den The Wire und Breaking
Bad
weiterführten, Die Simpsons aber nicht einschlagen konnten, weil
es bei ihnen nie um serielles Erzählen ging oder um eine sogenannte
Horizontale. Bei den Simpsons wird keiner älter, Bart ist für immer zehn, niemand stirbt
außer Maude Flanders, kaum etwas, das in einer Episode passiert, hat Einfluss
auf spätere Folgen.

Außerdem kam es nach den ersten neun Staffeln zu einem
spürbaren Wechsel bei den Autoren und Showrunnern. Die erste Generation schuf
Meisterwerke, die nie wieder erreicht wurden, zum Beispiel die Folge Marge
vs. The Monorail
aus der vierten Staffel, geschrieben von einem gewissen
Conan O’Brien (der dann den writers‘ room verließ, um eine Karriere als
Late-Night-Host zu starten). Die Folge ist Simpsons in Reinkultur: rasant, voller Witz, eine irre Show und
gleichzeitig ironische Gesellschaftskritik, ohne mit diesem Anspruch hausieren
zu gehen. Sie gilt vollkommen zu Recht als beste Simpsons-Episode aller Zeiten, noch vor einigen Folgen, die John
Swartzwelder geschrieben hat. Auch Leute, die diesen Mann hassen, halten ihn
für ein Genie. Swartzwelder verantwortete insgesamt 60 Folgen, unter anderem Whacking
Day
(Staffel vier), Rosebud (Staffel fünf) und Homer the Great
(Staffel sechs) – allesamt Simpsons-Klassiker, die noch heute, fast 30 Jahre nach ihrer
Entstehung, in absoluter Perfektion strahlen.

Perfektion erreichten die Simpsons in ihren ersten
neun Staffeln auch deshalb regelmäßig, weil die Folgen von charaktergetriebenen
Handlungen lebten: Eine Episode kreiste um Homer, Marge, Lisa oder Bart. Ab der
zehnten Staffel überdrehten die Simpsons auch mal, die prominenten
Gastauftritte nahmen zu und auch Verweise auf jene Popkultur, in deren Kanon
die Simpsons um die Jahrtausendwende längst aufgenommen waren. Die Serie
wurde beliebiger, vielleicht ein Fluch ihrer Langlebigkeit, denn anders als die
großen Shows der vergangenen Jahre, kann man Die Simpsons ja nicht zu Ende erzählen. Es wird kein Finale geben, auf
das alles hinausläuft, theoretisch könnte es ewig weitergehen.

Unter Jugendlichen gelten Die Simpsons längst als etwas, was ihre Eltern einmal geschaut haben, als sie jung waren. Da
noch miteinzusteigen, kommt also schon aus Prinzip nicht infrage. Gehört man zu
den besagten Eltern und schaut heute noch einmal in die Serie rein, fühlt sich das an, als hätte man ein altes Hörspiel der Drei Fragezeichen ausgegraben. Man erinnert sich
daran, wer man einmal war und wie sehr man Dinge geliebt hat, die einem heute nicht
sonderlich fehlen.

Alle Folgen der ersten 33 Staffeln von „Die
Simpsons“ sind bei Disney+ verfügbar. ProSieben zeigt den zweiten Teil der
33. Staffel ab 12. Dezember immer montags um 22.15 Uhr. Im Vorabendprogramm des
Senders laufen ältere Folgen nach wie vor in Endlosschleife.