Die Prüfungen des Lebens: Abdulrazak Gurnahs neuer Roman „Diebstahl“
Vor vier Jahren erhielt der 1948 auf Sansibar geborene Schriftsteller Abdulrazak Gurnah den Literaturnobelpreis. Er wurde ausgezeichnet, weil er mit seinem Schreiben die „Auswirkungen des Kolonialismus und das Schicksal des Flüchtlings“ ebenso kompromisslos wie mitfühlend durchdringt und offenlegt.
In Deutschland war Gurnah bis dahin unbekannt – trotz zweier Nominierungen für den renommierten Booker Prize, 1994 mit seinem historischen Roman Das verlorene Paradies und 2001 mit der Fluchtgeschichte Ferne Gestade, und einem Werk mit dem Titel Nachleben, das unmittelbar mit dem dunklen Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte verbunden ist. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Fünf Romane des 1968 nach Großbritannien geflohenen Schriftstellers sind seit seiner Auszeichnung in deutscher Übersetzung erschienen, mit Diebstahl liegt nun der erste nach dem Nobelpreis verfasste Roman vor.
Meisterwerk des Erzählens
Und die Erwartungen sind riesig. Wird der neue Roman wieder die blutige (deutsche) Geschichte in Ostafrika so umwerfend beschreiben, wie ihm das in Nachleben gelungen ist, in dem ein muslimischer Junge die Brutalität des deutschen Kolonialismus am eigenen Leib zu spüren bekommt? Oder wird er sich eher der nachkolonialen Gegenwart widmen, in der die Erinnerung an Gewalt und Vertreibung auf Fragen der Identität trifft?
Beides ist nicht der Fall. Diebstahl ist ein Meisterwerk des Erzählens, das sich ganz dem Allzumenschlichen verschrieben hat. Im Mittelpunkt stehen Karim, Badar und Fauzia, drei junge Menschen aus dem Tansania der Gegenwart, deren Lebenswege sich schicksalhaft kreuzen. „Die Fantasie wurzelt in der Erinnerung“, erklärte Gurnah kurz vor der Deutschlandpremiere seines Romans bei einer Begegnung.
Um an diese Erinnerung anzuknüpfen, setzt die Erzählung in einer Zeit ein, in der Gurnah selbst noch auf Sansibar gelebt haben könnte. In den Jahren vor der Unabhängigkeit Tansanias muss sich Raya einer arrangierten Ehe fügen, der Karim entspringt. Kurz nach seiner Geburt flieht sie vor der Gewalt ihres Mannes in ihr Elternhaus. Dort lässt sie ihren Sohn zurück, um sich in Daressalam ein neues Leben aufzubauen. Karim wächst erst bei seinen Großeltern und später bei seinem älteren Halbbruder Ali auf, bevor er zum Studium die Insel verlässt und ebenfalls in Tansanias Hauptstadt zieht.
Die Figuren sind ihrer Kindheit beraubt
Dort trifft er im Haushalt seiner Mutter auf Badar, einen Jungen in seinem Alter, der dort putzt und kocht. Mit seinem Dienst trägt der ebenso stille wie mittellose Teenager die Last einer familiären Schuld ab, von der er selbst nichts weiß. Aber er ahnt, dass etwas nicht stimmt, so wie noch nie in seinem Leben etwas gestimmt hat. Seit Kindertagen spürt er, dass für ihn andere Regeln gelten als für die Menschen, die ihn umgeben. Das Leben ist für Badar von Kindesbeinen an eine Bürde und er wird sein Schicksal stoisch (er)tragen, bis ihn unverhofft die Liebe trifft.
Alles andere als eine unbeschwerte Kindheit hat auch Fauzia, eine junge angehende Lehrerin, die Karim an der Uni kennenlernt. Als Überfliegerin stünden ihr auch ganz andere Türen offen, aber die Entscheidung für die Schule entspringt dem Sicherheitsbedürfnis, das ihr von der Mutter seit einem epileptischen Anfall in Kindertagen eingeimpft wurde.
Ein Leben an der Seite des selbstbewussten Karim verspricht einen Ausweg aus der überbehüteten Kindheit, aber am Ende wird sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Im Wechsel entfaltet Abdulrazak Gurnah die Lebensgeschichten dieser drei Figuren, die alle ihrer Kindheit beraubt wurden. Es könnte sein, dass das der große Diebstahl ist, mit dem der Roman spielt, dessen Hauptfiguren schmerzlich lernen werden, wie sie dieser Verlust prägt.
Jeder kämpft auf seine Weise
Der titelgebende Diebstahl könnte aber auch auf den Kolonialismus bezogen sein, dessen Verheerungen in den Perspektiven der Figuren nachklingen. Etwa wenn sich eine Freundin von Fauzia über die Amerikaner echauffiert, die dachten, „sie könnten die Leute einfach kidnappen, aus Afrika verschleppen und zwingen, Wälder zu roden, Baumwurzeln auszugraben und das Land zu pflügen und zu nähren, mit ihrem Dung und ihren Tränen.“
Oder wenn Badar in den Blicken von Touristen „so etwas Gebieterisches, Distanziertes“ ausmacht, „ein unausgesprochenes Gefühl von Überlegenheit“, das ihn fragen lässt, „welche Aufgaben sie hier während der guten alten Kolonialzeit wohl gehabt“ hätten. Von derlei Szenen sollte man sich aber nicht täuschen lassen. Diebstahl ist keine Allegorie auf die koloniale Vergangenheit, sondern eine meisterhaft zeitlose Erzählung, die den Menschen und ihren Prüfungen des Lebens gewidmet ist.
Der Roman wirkt lange nach
Zwar taucht irgendwann auch eine schöne Entwicklungshelferin auf, die Karims Leben auf den Kopf stellt, aber diese Geschichte dient nicht der Kritik postkolonialer Machtverhältnisse, sondern der Veranschaulichung von Sehnsucht und Begehren. Die Figuren in dieser Geschichte sind als Antihelden angelegt, jede kämpft auf ihre Weise mit dem Dasein. Gerade deshalb kann man sich unheimlich gut in ihnen wiederfinden. Hier zeigt sich die Universalität von Gurnahs Literatur.
Der Roman taucht nie in die Psychologie seiner Figuren ab, die Beweggründe ihres Handelns ergeben sich aus dem Geschehen, dem man gebannt folgt. Dabei vergisst man buchstäblich die Zeit, auch weil Gurnah wie kein Zweiter an der Uhr dreht. Mal versinkt die von Eva Bonné rhythmisch übersetzte Erzählung in intensiven Momentaufnahmen, dann wieder nimmt sie Fahrt auf, um auf zwei, drei Seiten die Geschichte einer Schwangerschaft, eines Familienkonflikts oder der kolonialen Raubzüge vor Augen zu führen.
Dieser Text ist von einer unheimlichen Eleganz, die die deutsche Übersetzung bis in die Satzstruktur überführt. Diebstahl ist ein großer, aber leiser Roman, der lange nachwirkt. Gurnah erzählt davon, was wir im Leben zu verlieren und zu gewinnen haben, was uns verzweifeln und was hoffen lässt. Und ob wir in der Lage sind, dies zu erkennen, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Diebstahl Abdulrazak Gurnah Eva Bonné (Übers.), Penguin 2025, 336 S., 26 €