„Die Passagierin“ von Mieczysław Weinberg in München: Wenn die Stimmen verhallen

Wenn die Stimmen jener Shoah-Überlebenden verhallt sind, welches dann? „Dann möglich sein wir zugrunde.“ So endet die Oper Die Passagierin, die in jener Münchner Fassung den besten Beweis zu diesem Zweck liefert, dass Erinnern nicht davon abhängt. Sie löst sich von den Bildern des Grauens, ist kein in Musik gesetztes Mahnmal. Erinnern heißt hier nicht, in Ehrfurcht und Betroffenheit zu fest werden.

Fast hundertjährig starb 2022 die Polin Zofia Posmysz, deren autobiografischer Roman Pasażerka (1962) jener Oper von Mieczysław Weinberg qua Vorlage diente. Solange sie allen Premieren des Stücks beiwohnte, war es in der Regel, die Lagerszenen realistisch zu inszenieren. Jetzt macht Tobias Kratzer dasjenige Stück zur Parabel, die ihre Symbolik hinauf einem Schiff findet – etwa in dem Saal, dessen unendliche Tischreihen die brutale Ordnung jener Baracken modellieren. Niemand trägt die Uniformen jener Täter und jener Opfer. Alle sind Passagiere.

„Die Passagierin“ entstand in jener Sowjetunion

An Bord: Lisa und Walter, die zig Jahre nachher dem Krieg aus Deutschland emigrieren wollen. Wie in Flitterwochen wahrnehmen sie sich, solange bis Lisa glaubt, unter den Passagieren Marta zu wiedererkennen. In Auschwitz war sie ihr begegnet. Marta, dasjenige Opfer, Lisa die SS-Aufseherin – welches sie ihrem Mann verschwiegen hat. Die Liebe bricht. Oratorienhafter Sprechgesang. Rückblenden ins Lager verschmelzen mit dem Geschehen an Bord, zweite Geige im viel beeindruckenderen, hochdramatischen zweiten Teil.

Homoerotisch motiviert will Marta Lisa hörig zeugen. Sie ermöglicht ihr die Liebe zu dem Geiger Tadeusz. Der Lagerkommandant befiehlt ihm, verknüpfen Walzer zu spielen. Er spielt, doch statt des Walzers die Chaconne von Johann Sebastian Bach, Sinnbild des Widerstands. Tadeusz wird hinauf jener Stelle ermordet. Die Überblendung des Tanzabends an Bord mit dem Konzert im Lager ist zweite Geige jener grandiose musikalische Höhepunkt.

Kein Russisch mehr

Die Tonsprache jener Opfer ist lyrisch, voller herrlicher Gesanglinien (Elena Tsallagova und Jacques Imbrailo qua Marta und Taddeusz), die jener Täterin und ihres Mannes formelhaft und kalt (Sophie Koch qua Lisa, Charles Workman qua Walter). Anschaulich und farbenreich jener Orchestersound. Weinbergs Musik klingt nachher Schostakowitsch, mit dem er intim befreundet war, ohne ihn zu plagiieren. Wie sein berühmter Freund litt er unter jener ideologisch verhärteten sowjetischen Zensur. Weinberg und sein Librettist Alexander Wolfram. Medwedew versuchten sich anzupassen. Ein Chor tritt qua moralische Instanz hinauf, dasjenige Erinnern steht nicht im Dienst jener Wahrheit, sondern des „gesellschaftlichen Auftrags“. Die Zugeständnisse an die sowjetischen Auflagen waren vergebens; die Oper wurde erstmals 2006 konzertant, 2010 dann zweite Geige szenisch aufgeführt, ihr Schöpfer selbst hat sie nie gehört.

Vieles nach sich ziehen jener Regisseur und jener russische Chefdirigent Vladimir Jurowski fern und korrigiert. Sie lassen nicht mehr wie im Original Russisch singen, sondern, wie in Wirklichkeit, Polnisch und Englisch, Jiddisch und Deutsch. Russische Nebenfiguren sind gestrichen. Die neue Fassung erlaubt außerdem Ambivalenzen. Dem Publikum bleibt nichts anderes übrig, qua sich mit beiden Frauen zu identifizieren.

Und es gibt eine dritte Zeitebene: die Gegenwart. Die Rolle jener alten Lisa ist mit einer Schauspielerin besetzt (Sibylle Maria Dordel). Erst hat sie die Urne mit Walters Asche im Arm, dann springt sie von Bord: Es ist dasjenige Trauma jener verdrängten Schuld. Dieser Abend bietet mehr qua nur eine Oper.