Die Menschen wollen soziale Sicherheit. Sie kriegen „Deutschland den Deutschen“

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Im Wahlkampf kann man Bratwurst essen und durch Kleingärten spazieren. In der täglichen Arbeit als gewählte*r Volksvertreter*in muss man sich mit Sachen auskennen, über sie nachdenken und sie entscheiden. Für viele offenbar ganz schön anstrengend. Es geht auch einfacher: „Deutschland den Deutschen“, das strapaziert das Oberstübchen weniger als die „Fortschreibung der Wohngeldsätze gemäß Verbraucherpreisindex“. Komplexe sozialpolitische Fragen sind super langweilig. Mit Vokabeln wie „Armutsvermeidende Mindestrente“, oder „Regelbedarfsstufen-Fortschreibungsverordnung“ kann man vielleicht Scrabble spielen, aber keine Stammtische begeistern.

Was dort, aber eigentlich auch überall sonst am stärksten wirkt: eine Erzählung. Entscheidend ist nicht, was man sagt, sondern welche Emotion transportiert wird. Studien zeigen, dass unbewusste Sympathien oder Antipathien sogar wichtiger sind als der Wahrheitsgehalt einer Aussage. So können Erzählungen sich hartnäckig halten, seien sie noch so falsch. Warum sich also mit kleinteiligen Regeln zu Familienleistungen für mobile EU-Arbeitnehmer in Bayern herumschlagen und den Menschen erklären, dass Deutschland wegen Diskriminierung und Verstoß gegen das EU-Recht von der Europäischen Kommission verklagt wird? Zugegeben, Sozialtourismus aus der Ukraine gibt es nicht, ist aber das deutlich knalligere Partythema. Und „Deutschland den Deutschen“ lässt sich auch besoffen lallen.

Fast alle Parteien halten mittlerweile an der Erzählung fest, Migration belaste die Sozialsysteme und man müsse (wissenschaftlich längst widerlegte) „Pull-Faktoren“ verringern. Damit wollen sie der „Stimmung“ in der Gesellschaft gerecht werden. Perfide daran ist, dass sie einen großen Teil dieser Stimmung selbst erschaffen haben. Die einen ganz strategisch und mit dem bewussten Erzählen von Lügen. Die anderen, indem sie diesen angeblichen Trends nacheifern, um doch noch ein paar Stimmen zu bekommen. Schlimm nur, dass sie damit die menschenfeindliche und rassistische Politik der AfD vorwegnehmen und deren Positionen legitimieren. Die AfD muss so gar nicht selbst an der Macht sein, um ihre Agenda in weiten Teilen schon durchzudrücken.

Aussagen der Grünen bezogen auf Migration lassen sich in diesen Tagen kaum noch von Forderungen der AfD und der mit ihr kuschelnden Union unterscheiden. Sie glauben das nicht? Hier eine Kostprobe: Cem Özdemir, der Grüne Bundesminister für Landwirtschaft, hat vergangenes Wochenende in einem FAZ-Gastbeitrag geschrieben, seine Tochter erfahre regelmäßig sexuelle Belästigungen durch Männer mit Migrationshintergrund. Dies könne man allerdings nicht pauschal verurteilen, da es „sehr viele Migranten und Geflüchtete“ gebe, die „alles tun, um hier schnell anzukommen, hart arbeiten und sich engagiert einbringen.“

Er lässt nicht aus, im selben Atemzug die bisherige Flüchtlingspolitik scharf zu kritisieren. „Wir müssen wissen, wer im Land ist. Wir müssen dafür sorgen, dass nur die im Land sind, die hier sein dürfen.“ Damit rechtfertigt er die auch durch die Grünen beschlossenen Asylrechtsverschärfungen und gerade eingeführten Grenzkontrollen an deutschen Außengrenzen. Nebenbei schmeißt er damit die eigene Partei für die kommende Bundestagswahl in Schale. Ziel ist ganz klar eine Koalition mit der Union, die mittlerweile rechter kaum sein könnte.

Migrationspolitik als Ablenkungsmanöver

Was die Sache noch kniffliger macht: Das Migrationsthema kommt der Regierung und auch der ehemals in Regierungsverantwortung stehenden Opposition nicht ungelegen. Denn es lenkt so praktisch von ihrem eigenen, jahrelangen Versagen ab. Und es wird von ihnen aktuell nicht verlangt, Lösungen für echte Probleme vorzulegen. Tatsächlich ist es ja nicht die Migration, die die Systeme überlastet. Unsere Sozialsysteme und die Infrastruktur sind allein deswegen marode, weil die Politik jahrzehntelang das Gemeinwohl heruntergewirtschaftet und Sozialabbau betrieben hat. Aber hey, schnell einmal mit dem Ausländer-wandern-in-unsere Sozialsystem-ein-Schwamm drüber, um die wahren Fakten zu vertuschen.

Deutschland schafft es jetzt schon, immer mehr Schutzsuchende zu vergraulen, im Voraus abzuschrecken oder Asylanträge einfach liegen zu lassen. Das betrifft zum Beispiel Menschen, die aus Gaza geflohen sind und bei uns Asyl suchen. Dabei ist die humanitäre Situation in Gaza katastrophal und laut nationalem und internationalem Recht müssen diese Menschen bei uns Asyl bekommen. Etliche Verwaltungsgerichte haben deswegen bereits Untätigkeitsklage erhoben und drängen das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) auf zügige Entscheidungen.

2023 haben gerade mal 350.000 Geflüchtete einen Asylantrag gestellt; 2024 werden es nur noch rund 260.000 sein. Die Zahlen sind also rückläufig (was ich persönlich keinen Grund zum Feiern finde). Die meisten Kommunen wären sehr wohl in der Lage, diese Anzahl von Menschen aufzunehmen und zu integrieren. Die Parteien aber verfolgen offenbar nicht das Ziel, die Kommunen dabei zu unterstützen, sie zu befähigen und der Gesellschaft ein „Wir schaffen das“ zu vermitteln: mit einem Wort, Lösungen zu finden. Im Gegenteil: Sie haben verstanden, dass sich mit der Migrationsdebatte die Gemüter erhitzen lassen und sie mit „harten Maßnahmen“ gegen Schutzsuchende dastehen können, als würden sie reale Probleme in die Hand nehmen und effektiv lösen. Trotz Bauchschmerzen. Migrationspolitik ist damit das perfekte Ablenkungsmanöver für das teils jahrzehntelange Politikversagen aller beteiligten Parteien. Asylsuchende sind der wehrloseste Sündenbock für die Abstiegs- und Existenzängste der Bevölkerung.

Trotz des angeblich so großen Wunsches nach sozialer Sicherheit hat in Brandenburg jede dritte Person die AfD gewählt. Was die AfD verspricht, wissen wir. Es ist so simpel wie menschenfeindlich und rassistisch: „Remigration“ im „großen Stil“. Im Klartext: die massenhafte Deportation von Menschen, die nicht-deutsche Wurzeln haben. Als würden damit auch nur ansatzweise Verteilungskämpfe geklärt, Brücken saniert oder Renten im Alter üppig. Und als würde dann die Bahn wieder pünktlich kommen.

Die tatsächlichen Probleme in unserem Land fallen durch die Nebelkerze der Migrationsdebatte ganz praktisch unter den Tisch. Schulgebäude sind so marode wie die Brücken. Der Deutsche Lehrerverband vermeldet bereits 2023 bis zu 40.000 unbesetzte Lehrerstellen. Auch in den Kitas fehlen Erzieher*innen und infolgedessen bereits 400.000 Kita-Plätze. Jede*r Fünfte arbeitet im Niedriglohnbereich, die Altersarmut nimmt zu. Selbst wer 40 Jahre zum Mindestlohn arbeitet, landet geradewegs in Altersarmut. Horrende Mieten machen allein das Wohnen für einen Großteil der Bevölkerung zur Herausforderung.

Der Druck auf Menschen im unteren Lohnsegment wächst. Mehr Sanktionen, weniger Bürgergeld, schlechtere Verhandlungsgrundlage, größere Schmach und größeres Stigma für Menschen, die Sozialleistungen beziehen müssen, tun ihr Übriges. Abstiegsangst wird mit Schmarotzer-Rufen übertönt. Als wäre das alles nicht genug, wurde durch die Privatisierungen der 1990er Jahre unser Gesundheitssystem zur Gesundheitswirtschaft. Hier gelten andere Gesetze als im einstigen Solidarsystem. Der Markt regelt aber nur die Gewinne von Privatkliniken. Dumm gelaufen. Denn Gesundheit ist keine Ware.

Fehlende Kita-Plätze, Pflegenotstand und Lehrermangel, keine Arzttermine, schlecht bezahlte Arbeit, all das hat Auswirkungen auf die Menschen, ihr soziales Sicherheitsgefühl und -erleben. Kürzungspolitik in der Rezession führt nachweislich zum Aufstieg rechter Parteien. Das belegen renommierte Studien ganz klar – an die „glaubt“ Finanzminister Christian Lindner (FDP) aber nicht.

Die Antwort könnte so einfach sein: Sozialer Wohnungsbau, Mietpreisdeckel, Bildungsinvestitionen, faire Löhne, ein angemessenes Rentenniveau, ein armutsfestes Bürgergeld, flächendeckende Gesundheitsversorgung, ein progressives Steuersystem. Wenn dann noch die Bahn halbwegs pünktlich führe und das Deutschlandticket für alle bezahlbar wäre … dann wäre soziale Sicherheit kein weit entfernter Wunschtraum mehr, der angeblich durch ein paar Asylsuchende gefährdet werden könnte, sondern Realität. Niemand mehr müsste wütend die Menschenrechte mit Füßen treten. Niemand müsste mehr nach unten treten. Das muss natürlich auch jetzt niemand, aber leider passiert es und wird aktiv gepusht durch eine Politik, der die Menschen im Gegensatz zu Umfragewerten scheißegal sind. Medien, die für gute Klickzahlen jede noch so grundgesetzferne Forderung zur Schlagzeile machen, spielen bei diesem Spiel mit.