„Die Marilyn-Monroe-Welt ist verrückt geworden“
Marilyn Monroe war ein Star, lange bevor sich die Selbstvermarktung im Netz etablierte. Heute treiben Auktionen die Erlöse ihres Nachlasses in absurde Höhen. Nächstes Jahr wird das Getöse noch einmal richtig aufbranden, wenn die Ikone hundert Jahre alt geworden wäre.
Ein Sommertag in Roxbury, Connecticut. Marilyn Monroe springt barfuß durch den Garten des Farmhauses, in dem sie mit dem Dramatiker Arthur Miller lebte, ihrem dritten (und letzten) Ehemann – und lacht in die Kamera, völlig entspannt. Sam Shaws Blick war der eines Freundes. Der Fotograf hat den Filmstar in den 50er-Jahren am Set und privat begleitet. Genau darin liegt die Faszination dieser Aufnahmen: Shaw gelangen Fotos von verblüffender Intimität in einer Zeit, bevor die Bilder von Prominenten durch die Paparazzi der Klatschpresse ihre Unschuld verloren. Ein Teleobjektiv hatte er nicht nötig, er kam der Monroe auch ohne sehr nah, weil sie ihm vertraute.
Mit dem Bildband „Dear Marilyn – Die unveröffentlichten Briefe und Fotografien“ öffnet sich nun das Archiv des 1999 verstorbenen New Yorkers, das jahrzehntelang wegen Rechtsstreitigkeiten verschlossen war: Ein Dialog aus Bildern und Briefen, erschienen bei Schirmer/Mosel als Auftakt des Rummels um den bevorstehenden runden Geburtstag der Ikone, die am 1. Juni 2026 100 Jahre alt geworden wäre.
Monroe-Experte Peter Schnug aus Düsseldorf hat mit dem Buch und seiner Entstehung nichts zu tun, kann es aber einordnen. Die Aufnahmen sind ihm bekannt, Grundwissen, wenn man so will. „Trotzdem“, lobt er, „ist es ein wunderbarer Bildband, der den Betrachter in einer Flut von Fotos schwelgen lässt. Bislang unveröffentlicht sind vor allem die Briefe aus Shaws Nachlass“, erzählt der 62-jährige Filmhistoriker, einer der bedeutendsten Monroe-Kenner und -Sammler im deutschsprachigen Raum. An die 80.000 Objekte umfasst sein Archiv, darunter allein 1200 Bildbände und Bücher, um die 5000 Zeitschriften, Fotos, persönliche Dinge wie ihr Poesiealbum, eine bei Christie’s in New York ersteigerte Bluse und vieles mehr. Irgendwann habe er eine Wand im Wohnzimmer ziehen und Regale aufstellen lassen – fertig war sein Museum, erzählt er. Mit ihm über Monroe zu reden ist die pure Lust und Freude. „Aber sie ist auch viel Arbeit“, schnaubt Schnug ins Telefon. Klar, Papier ist empfindlich, Fotos vergilben, überhaupt: der Staub!
Mit neun Jahren entdeckte er seine Faszination für den Filmstar. Schnug wuchs in einem Dorf bei Solingen auf – „schön, aber nichts los“ – saß in seinem Zimmer und blätterte durch die bunten Seiten der „Bravo“. Und da war sie: auf dem Cover, der ferne Schimmer des „amerikanischen Traums“. Die Begeisterung entfachte eine Sammelleidenschaft, die ihn bald mit der halben Welt verband. Eine Weile hatte er seine Sammlung sogar für Besucher geöffnet. „Und dann war ich so freundlich und habe in der Küche schnell mal einem Gast einen Kaffee gemacht – schwuppdiwupp gingen die Langfinger ans Werk!“ Seitdem hält er seinen Schatz verschlossen. Auch er, sagt er, brauche manchmal Abstand, sonst wird die Monroe ihm zu lebendig.
Bis heute ist die Filmlegende allgegenwärtig. „Marilyn hatte eine große Anmut ohne Allüren“, sagt Schnug, exemplarisch für die Faszination der Hollywood-Legende und ihrer weit über ihren Tod hinaus mythologisierten Sinnlichkeit. „Aura entsteht, wenn etwas ungesagt bleibt“, fügt der Experte hinzu. Mit Marilyn kann man träumen. Sie bietet eine Projektionsfläche für Fantasien und heimliche Sehnsüchte. Viele Menschen sind außerdem an Schicksalen interessiert, weil sie daraus auch ableiten, wie es ihnen geht.
Hinter ihrer sexy Fassade war Marilyn eine verletzliche Frau, die immer auch ein wenig das Parfum der Einsamkeit umwehte; oft als Opfer dargestellt, vor allem als Opfer der Männer, die sie umgaben; als eine Figur, die Andy Warhol irgendwann zum Abziehbild erstarren ließ. Danach kamen die Brigitte Bardots und rauchenden It-Girls, ein anderer Frauentyp, selbstbestimmt.
„Sie war höflich, talentiert und auch ihrer Zeit voraus – eigene Filmproduktion inklusive“, wirft Schnug ein. Sie folgte ihrer eigenen Inszenierung. Dazu hatte sie diese Erotikformel, mit der sie immer etwas blitzen ließ und so eine gekonnte Illusion der Nacktheit erzeugte, statt aus falschen Gründen den Vorsatz zu fassen, abnehmen zu wollen, um nur noch Dekoration für ein Kleid zu sein. Wie Kim Kardashian, die nach einer Extremdiät auf einer Mode-Gala angetrippelt kam, eingenäht in das legendäre Kennedy-Kleid (Wert: 1,5 Millionen Dollar). Das hatte sie sich für das Event ausgeliehen, um selbst die Ikone noch zu überglitzern. „Die MM-Welt ist verrückt geworden“, sagt Schnug. Auktionen treiben Nachlass-Erlöse in absurde Höhen. Nächstes Jahr wird das Getöse noch einmal richtig aufbranden: Ausstellungen, Festivals, Sondereditionen, eine Art nicht enden wollende Liveberichterstattung vom Grabstein. Manchmal wünschte er sich, es wäre etwas künstlerischer, weniger zirkushaft. Das Raffinierte ist flöten gegangen. Aber es habe auch etwas Schönes: „Marilyn ist wie das Wetter – sie ist überall.“
Buch-Tipp: Sam Shaw: „Dear Marilyn – Die unveröffentlichten Briefe und Photographien“, mit einem Vorwort von Meta Shaw und Edie Shaw, Schirmer Mosel
Source: welt.de