Die European Space Agency hat ambitionierte Pläne z. Hd. die europäische Raumfahrt

Durchaus. Deutschland wird künftig zwei wichtige Standbeine der ESA haben. Das hat eigentlich kein anderes Land in der Form.

Das würden die Deutschen gar nicht vermuten.

Also, Deutschland hat da die Nase vorne, und das ist in diesem Land eine Anschubchance für Wirtschaft und Technologie.

Das wäre wohl auch nötig, so richtig rund läuft es hier im Land ja gerade nicht.

Ja, ich war gerade in Berlin und habe die Stimmung noch selten so gedrückt empfunden wie heute. Aber ich glaube schon, dass Raumfahrt einen Beitrag leisten kann, wieder eine gewisse Zuversicht in die Zukunft zu geben, auch wieder Leuchtturmprojekte angehen zu können. Die Tatsache, dass die europäischen Astronauten in Köln ihre Homebase haben, ist eine super Gelegenheit, die inspirierend sein sollte. Ich möchte das mit einer Zahl belegen. Es gab vor einigen Jahren eine Studie, die gezeigt hat, dass sich während der Apollo-Missionen in den USA mehr als die Hälfte der Bevölkerung für Wissenschaft und Technologie interessiert hat. Das heißt nicht, dass danach jeder Weltraumingenieur wurde. Das heißt auch nicht, dass jeder Informatiker wurde. Aber wenn sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung für diese Themen mindestens interessiert, ist es natürlich schon eine sehr starke Ansage und eine Perspektive für neue Generationen. Und ich wünsche mir, dass wir in Europa auch wieder große Projekte initiieren können, wie wir es früher schon gemacht haben.

Der Schweizer Daniel Neuenschwander
Der Schweizer Daniel Neuenschwanderdpa

Zum Beispiel?

Da denke ich zum Beispiel an das Ariane-Projekt, das seit 1979 in Europa hoch angesehen war durch seine Spitzenposition, die erst in den vergangenen Jahren durch SpaceX streitig gemacht wurde. Und ich wünsche mir wirklich – das ist für mich persönlich ganz wichtig, auch als Familienvater –, dass die Jugend dieses Kontinentes auch wieder eine Perspektive hat und sich faszinieren lässt. Astronauten können dazu einen guten und wichtigen Beitrag leisten.

Faszination kann man schon wecken, das haben gerade erst die Polarlichter am europäischen Himmel gezeigt. Die Fotos davon haben überall die sozialen Netzwerke geflutet. Und zur Sonnenbeobachtung gibt es in Brüssel gerade auch eine Neuigkeit von der ESA, nämlich die Sonnenbeobachtungsmission Vigil, für die die Verträge mit den Herstellern auf den Weg gebracht wurden.

Ja, ich glaube, wir sind von europäischer Seite auf einem guten Weg. Warum sage ich das? Weil wir in der Weltraumwissenschaft Projekte haben, die die neuen Standards setzen, zum Beispiel in diesem Fall in der Sonnenbeobachtung, die wichtig ist, weil erhöhte Sonnenaktivität nicht nur eine Aurora borealis erzeugt, also Polarlichter, sondern auch Auswirkungen auf die Infrastruktur hat, also auf die Energieversorgung oder auch auf die Satellitenkommunikation. Das dürfen wir mit einem gewissen Stolz sagen, denn wir tun das in einer sehr effizienten Art und Weise. Und ich sage das, weil wir natürlich einen Bruchteil des Budgets haben, das die USA haben. Und trotzdem ist Europa vorne mit dabei. Und noch etwas: Wir haben gerade zwar Nachholbedarf bei den Trägerraketen, aber ich glaube, dass es in Zukunft Wert haben wird, dass wir auch aufzeigen können, dass wir da nachhaltig unterwegs sind.

Worauf Sie anspielen, ist das „Zero Debris Charter“, das in Brüssel ebenfalls unterzeichnet wird. Das Ziel, im All keinen Müll mehr zurückzulassen, soll schon 2030 erreicht werden – das ist sehr ehrgeizig.

Ja, es ist ehrgeizig. Aber man muss aggressive Ziele setzen, um etwas zu bewegen. Das wird im Wettbewerb ein Vorteil sein – und wir sollten auch bereit sein, dafür etwas aufzuwenden. Gerade auch in Deutschland mit seinem hohen Klimabewusstsein in der Gesellschaft.

Ich war vor einiger Zeit bei der ESA in Darmstadt, und der Termin drehte sich in allererster Linie um dieses Thema, vor allem um die Aktivitäten, im All schon vorhandenen Weltraumschrott einzusammeln.

Da wollen wir demonstrieren, dass wir die Fähigkeit haben, auch ein nicht kooperierendes, also nicht mehr zu steuerndes Ziel, zum Beispiel einen Satelliten, einzufangen und wieder zurückzubringen. Wir wollen einfach gewisse Umlaufbahnen sauber halten. Das ist wichtig: Allein im vergangenen Jahr hatten wir 220 Raketenstarts auf der Welt mit 2939 Satelliten, die in die Umlaufbahn gebracht wurden. Das sind völlig neue Dimensionen. Vor ein paar Jahren waren wir da noch in ganz anderen Größenordnungen. Und das erhöht natürlich das Risiko, dass es einmal zu einer Kollision kommt. Das wird nicht zu vermeiden sein. Deshalb müssen wir eine Art „Staubsauger“ entwickeln – mit großen Gänsefüßchen natürlich –, um die Wohnung dort oben sauber zu halten.

Was in Brüssel sogar von Ihnen persönlich vorgestellt wird, ist der „LEO Cargo Return Service“: wie der Name schon sagt, ein Raumtransporter, der wieder zurückkehrt. Er hinterlässt schon mal keinen Müll. Aber das Besondere ist, dass dieser europäische Raumtransporter von den privaten Anbietern Thales Alenia Space und The Exploration Company gebaut werden wird. Jetzt wird es umgesetzt, und zwar bemerkenswert schnell – bis 2028.

Das ist schon unheimlich sportlich, das sind wirklich andere Dimensionen, die wir da umsetzen. Und so spektakulär die Geschwindigkeit ist, die wir uns vorgenommen haben, so wichtig ist es auch, dass wir Europäer künftig nicht mehr per Anhalter in die Umlaufbahn gehen.

Ein schönes Bild.

Wenn Europa eine gewisse Relevanz behalten will, muss es seinen unabhängigen Zugang zum All haben und eine unabhängige Transportfähigkeit. Das gilt umso mehr, wenn es um eine kommerzielle Welt geht. Und jetzt gehen wir noch einen Schritt weiter. Jetzt versetzen Sie sich ein paar Jahre in die Zukunft, und wir befinden uns in einer kommerziellen Welt, die auch auf dem Mond ankommt. Das wird noch eine Weile dauern, aber dann geht es da plötzlich um Ressourcen, und wer die Ressourcen nutzen kann, wird sie wahrscheinlich auch mitnehmen. Und wenn wir dann kein Transportsystem für Europa haben und fragen müssen, ob jemand so nett sein könnte, uns mitzunehmen? Ich sage ihnen, dann sind die Ressourcen weg.

LEO ist also eine strategische Entscheidung?

Europa musste sagen: Wollen wir unsere eigene unbemannte, zuerst einmal unbemannte, Versorgungsmöglichkeit, eine Destination in tiefer Umlaufbahn? Und wollen wir die Fähigkeit haben, die auch wieder zurückzubringen auf die Erde? Und wir haben auch beschlossen, dass wir diese Fähigkeit, wenn sie einmal funktioniert, weiterentwickeln können: entweder zu einem Raumtransporter, der bemannt wird für die tiefe Umlaufbahn, oder dass man auch sagt, wir holen Material von der Mondumlaufbahn zurück, was natürlich andere Wiedereintrittsgeschwindigkeiten mit sich bringt. Wir haben da eine Weiche gestellt für ganz Europa.

Aber neue bemannte Missionen gibt es auch?

Die fünf Astronauten, um die es geht, haben jetzt intensiv über ein Jahr lang in Köln ihr Basistraining absolviert: Sophie Adenot, Pablo Álvarez Fernández, Rosemary Coogan, Raphaël Liégeois und Marco Sieber. Diese Astronauten haben natürlich immer ein großes Team dahinter, die das ermöglichen, mein Dank gilt ganz speziell ihnen. Zwei der Astronauten, Sophie Adenot und Raphaël ­Liégeois, trainieren jetzt schon in Houston. Sie haben ihr Diplom entgegengenommen und sich sofort danach ins Flugzeug nach Amerika gesetzt. Wir haben aber das Ziel, dass auch die anderen drei noch vor 2030 zur Internationalen Raumstation ISS fliegen. Und das ist eine Umgebung, die uns sehr bekannt ist: Wir hatten ja Anfang des Jahres zwei Europäer, die gleichzeitig an Bord der ISS waren. Und das war doch auch ein Zeichen, dass wir durchaus den zweiten Gang einlegen können in Europa. Aber jetzt zurück zu Ihrem Punkt. Ja, wir fliegen diese fünf Astronauten, und das Nächste wird natürlich ein Flug zum Mond sein. Und ich erinnere daran, dass wir heute in unserem Astronautenteam auch Matthias Maurer und Alex Gerst haben. Und ich freue mich, das auch ein Deutscher hoffentlich früher als später zum Gateway fliegen wird, also zur Station, die den Mond umkreisen wird, wofür wir drei Sitze haben. Und wir müssen dafür jetzt zu einer Entscheidung kommen, wann wer fliegt aus Europa. Sie können sich vorstellen, dass das alle Regierungen auf höchster Ebene interessiert.

Dieses Gateway ist auch schon Bestandteil der Artemis-Mission?

Ja, und wir liefern fast die Hälfte der In­frastruktur dafür – hinter den USA. Wir sind also ein wichtiger Partner auf Gateway, und da wir die Infrastruktur liefern, kriegen wir Astronautenflüge zum Gateway. Wir liefern Hardware und kriegen dafür Flugtickets. Orion, die Kapsel, mit der geflogen werden wird, ist eine amerikanische Kapsel, aber das Antriebssystem dafür kommt aus Europa, integriert und finalisiert in Bremen. Mein Ziel ist es, dass jeder Astronaut, der bei Artemis – übrigens der Schwester von Apollo – mitfliegt, zuvor in Köln trainiert. Das Zentrum ist das Modernste, das es gibt. Die Amerikaner würden nicht nach Köln kommen, wenn wir dort nur etwas duplizierten, was es schon gibt.

Und mit der neuen Trägerrakete Ariane 6 ist die ESA weiter im Zeitplan – denn derzeit hat Europa bei den Raketen ja einen großen Nachteil?

Ich bin zuversichtlich, dass Ariane 6 ihren Jungfernflug im angekündigten Zeitfenster diesen Sommer haben wird. Und wenn wir einmal geflogen sind, sieht die Welt anders aus. Wir sind fokussiert auf dieses Ziel.

Das Jahresbudget der ESA beträgt 7,8 Milliarden Euro, die Hälfte davon geht allein in die Erdbeobachtung. Reicht das Geld? Sollten wir Europäer da noch mehr investieren? Und wenn ja warum?

Zuerst sag ich mal Danke. Wir sprechen von Steuergeldern, und ich bin mir durchaus bewusst, dass es viele Leute gibt, die sehr hart arbeiten und schauen müssen, dass ihre Familien durchkommen. Und dann müssen sie noch Steuern zahlen. Es ist mir schon wichtig, dass wir uns sehr gut überlegen, was wir mit unserem Budget machen bei der ESA, was ja von staatlichen Budgets kommt und nicht von privaten.

Mit denen Europa aber auch im Wettbewerb steht.

Wir haben von diesem Jahresbudget, das Sie genannt haben, 1 Milliarde Euro im Jahr für die Exploration. Bisher sind fünf Nationen auf dem Mond gelandet und eine kommerzielle amerikanische Firma. Über Jahrzehnte hinweg waren es drei, und seit letztem August haben wir jetzt zwei zusätzliche Staaten, nämlich Indien und Japan. Hinzu kommt das amerikanische Unternehmen. Wo aber ist Europa? Wir müssen uns die Frage schon stellen, wie wir uns in dieser Dynamik positionieren wollen. Sowohl die Amerikaner wie auch die Chinesen stehen im vollen Wettbewerb. Ich weiß, dass wir in Europa da nicht einfach mithalten können und einfach die Budgets nach oben drehen. Das werden wir nicht schaffen. Also müssen wir auch Mut haben zur Priorisierung. Aber wir müssen schon sehr, sehr gut aufpassen, dass wir so priorisieren, dass wir dann handeln können. Sonst werden wir schlichtweg irrelevant. Das ist die Ausgangslage. Auch Indien ist sehr schnell unterwegs. Sie haben 2018 ihre Direktion für bemannte Raumfahrt gegründet. Und schon nächstes Jahr werden sie eine bemannte Kapsel testen. Mitte der Dreißigerjahre wollen sie ihre eigene Station haben und 2040 auf der Mondoberfläche landen. Und das Ganze mit einer Raumfahrtagentur, die direkt unter dem Premierminister angehängt ist. Europa muss sich bewusst sein, dass die Entscheidungen, die wir in den nächsten Jahren treffen, wegweisend sein werden.

Das heißt also für das Budget?

Das heißt, dass wir in gewissen Sektoren nicht darum herumkommen werden, mehr zu investieren. Und es lohnt sich. Aus jedem investierten Euro in ein Raumfahrtprojekt der ESA werden später drei bis zehn, je nach Themenbereich. Das können wir belegen. Hinzu kommt der indirekte Nutzen für die Gesellschaft, die Faszination und Inspiration, über die wir sprachen. Technologische Innovation wird auch in Deutschland großgeschrieben, und wir müssen schauen, wie wir diesen Wert auch erhalten können. Also: Wir müssen priorisieren, aber auch mehr investieren. Und es wird sich lohnen.

Und Europa muss auch mehr private Investitionen in die Raumfahrt mobilisieren?

Wir versuchen es. Aber wir müssen diesen Aspekt auch in eine Perspektive bringen. Vergangenes Jahr lagen weltweit die uns bekannten öffentlichen Ausgaben bei 108 Milliarden Euro, ein Plus von 15 Prozent gegenüber 2022. Und wahrscheinlich ist diese Zahl unterschätzt, weil wir wissen ja nicht alles, was die chinesische und die russische Seite betrifft. Die Privatinvestitionen 2023 beliefen sich auf 7,5 Milliarden Euro. Und doch: Ich bin persönlich tief davon überzeugt, dass private Investitionen auch in Europa wichtig werden in der Zukunft. Gerade weil die Haushalte der Staaten gewisse Herausforderungen haben im heutigen geopolitischen Umfeld, wo viel für die Verteidigung ausgegeben werden muss. Zwangsläufig ist mir die Problematik absolut bewusst. Wir machen viel, um private Investitionen zu fördern, und wir sollten das auch noch verstärken von dieser Seite. Und das werden wir verstärken für die nächste Ministerratstagung, die in Deutschland stattfinden wird. Aber die Privaten müssen auch wissen, wie sie ihr Produkt oder ihre Dienstleistung eines Tages verkaufen können. Und das heißt, dass wir von der öffentlichen Seite auch bereit sein müssen, zuerst mindestens als Ankerkunde aufzutreten. Wir brauchen überall den Mut auch für langfristige Entscheidungen.