Deutschland-Ticket | Der kurze Sommer welcher Euphorie: Deutschland-Ticket kostet jetzt 58 Euro, demnächst dann wohl 70

Das Deutschland-Ticket, einst ein Grund für Euphorie und gute Laune in Bussen und Bahnen, wurde von den Ministern, den Verkehrsunternehmen und den Ländern kaputt verwaltet


Der Staat fördert den Nahverkehr, aber mehr aus der Perspektive der Autofahrenden

Foto: Jürgen Ritter/Imago Images



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Es waren wunderbare drei Monate im Sommer 2022: Fast 60 Millionen Menschen kauften das 9-Euro-Ticket und waren voller Begeisterung. Überall hallte der Ruf: „Hast Du es auch schon?“ Es war wie eine große Love & Peace-Veranstaltung des Nahverkehrs. Der Rave nahm alle mit. Menschen, die drei große Autos in ihrer Garage wussten, legten sich das Ticket genauso zu wie Familien mit fünf Kindern, von denen vorher noch keines die Stadtgrenze überquert hatte.

Klar, es herrschte Gedränge und die Profinutzer waren genervt, weil die vielen Neuen natürlich keinen Plan hatten, wie die Türen aufgehen, wo man sich hinzustellen hat, wo die Anzeigentafeln stehen und wo der Ausgang ist. Aber es blieb bei den allermeisten doch ein wirklich großartiges Gefühl zurück. Kein Mensch hätte sich jemals vorstellen können wie Busse und Bahnen so emotionalisieren können: so klassenübergreifend begeistern. Die vielen Neuen waren überrascht, wie gut der Öffentliche Nahverkehr funktionierte und wie falsch die eigenen Vorurteile über die Probleme von Bussen und Bahnen gewesen waren.

Aber warum hat es nicht geklappt, diese Begeisterungswelle zu verstetigen und als wirklichen Aufbruch in eine Verkehrswende zu nutzen? Wir sind wieder zurück in Deutschland. Noch während der drei Monate meckerten zuerst die Verkehrsunternehmen selbst: Man könne ja gar nicht so viele Busse und Bahnen bereitstellen, wie jetzt gefordert würden und überhaupt wäre das Netz dem Ansturm nicht gewachsen, zu viele Stellen vakant und der Krankheitsstand hoch. Die Unternehmen versteiften sich dann zur Aussage, dass als Erstes mehr Geld in den Ausbau der Infrastruktur gesteckt und das Angebot an Nahverkehrsleistungen erhöht werden müsste und gaben zugleich zu, dass dies auch schon mal 15 bis 20 Jahre dauern würde.

Dann kriegten die Verkehrsminister Angst vor der eigenen Courage

Die Länderverkehrsminister wiederum traten direkt auf die Euphoriebremse und nutzten den neuen Schwung dazu, eine Erhöhung der Bundesmittel für die Finanzierung des Nahverkehrs und damit ihrer eigenen Länderhaushalte zu fordern. Da war jeder sich selbst am nächsten. Das alles fand natürlich immer schön in allen analogen und digitalen Medien statt, sodass der Streit auch bei allen gut ankam. Besonders enttäuschend verhielt sich der Verband der Verkehrsunternehmen, der es nicht verstand, die Sympathie für die Forderung nach einem wirklich größeren Stückchen am Finanzkuchen auszunutzen.

Denn natürlich hätte die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets oder auch einer modifizierten Lösung deutlich mehr Geld gekostet. Die unterschiedlichen Lösungen, die ins Spiel gebracht wurden, kulminierten in etwas bei 12 bis 14 Milliarden Mehrkosten. Aber anstatt die neue Love & Peace Bewegung für die Relevanz des öffentlichen Verkehrs auszupreisen, hatte man Angst vor der eigenen Courage. Der Verband gestand selbst ein, dass die Summe von der Politik niemals bereitgestellt würde. Tatsächlich rechneten die Umweltverbände rasch die dem Auto gewährten Privilegien wie Pendlerpauschale, Dienstwagenbesteuerung und Dieselsubventionierung zusammen und kamen dabei schnell auf die fehlenden 12 Milliarden. Doch der Verband winkte ab und versuchte die Debatte erst gar nicht aufzunehmen.

Der Gedanke liegt nah, dass die Macher des Nahverkehrs, die selber alle Autos fahren, nicht mit der notwendigen Vehemenz hinter Bussen und Bahnen stehen. Man greift dabei auch gerne in die Trickkiste der „Daseinsvorsorge“. Gemeint ist damit, dass der Staat die Förderung des Nahverkehrs als seine Aufgabe betrachtet und auch finanziert, aber eben mehr aus der Perspektive der Autofahrenden: für die Armen und Bedürftigen sollte es auch was geben, das reicht dann aber auch. Denn wie ist es zu verstehen, dass man endlos lange Zeit brauchte, bis schließlich das 49-Euro-Ticket als Kompromiss herauskam und dies aber noch lange nicht als das Ende der Preisspirale verkündete.

Braucht es denn noch 80 Verkehrsverbünde?

Zwischenzeitlich war aufgefallen, dass von den 3 Milliarden Euro, die Bund und Länder dann doch noch extra spendiert hatten, nicht alles Geld verbraucht war und so konnte der jetzige Deal mit 58 Euro gelingen, der aber auch nicht lange halten wird. Auf die Idee, die knapp 80 Verkehrsverbünde und Zweckverbände zu reduzieren, weil diese bei einem Deutschland-Ticket praktisch nicht mehr gebraucht werden, darauf ist die Branche auch noch nicht gekommen. Ganz im Gegenteil: Um die Einnahmen gerecht zwischen den Leistungserbringern aufzuteilen, hat man zusätzlich gleich noch eine neue Firma gegründet und diese auch mit ordentlich Personal ausgestattet.

Der öffentliche Verkehr, so wie er derzeit organisiert ist, hat weder den Mut noch die Größe, die eigenen Produkte als das Rückgrat der Verkehrswende einzufordern. Denn dazu müsste man ehrlicherweise an sich selbst einen Reformbedarf erkennen und den Kampf gegen die Privilegien des Autos eingehen, aber da wäre man auch gleich wieder selbst betroffen. Im Ergebnis gibt es jetzt 58-Euro-, bald 70-Euro- oder 90-Euro-Tickets, was aber auch egal ist, denn die Euphorie ist verflogen. Die Menschen sind längst wieder zurück in ihrem Alltag, die Chance ist verpasst.

Andreas Knie ist Leiter der Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) und Professor für Soziologie an der Technischen Universität Berlin