Deutsche Waffenexporten nachdem Israel: „Fast 40 meiner Schulfreunde wurden bisher getötet“

Anfang August verkündete Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU), Deutschland werde bis auf Weiteres keine Waffen mehr nach Israel liefern – jedenfalls nicht solche, die im Gaza-Krieg Verwendung finden könnten. Doch drei Monate später ist Schluss mit dem teilweisen Exportstopp: Merz’ Regierungssprecher verkündete jetzt, Deutschland werde zum Modus der Einzelfallprüfung zurückkehren: Israel kann also wieder mit deutschen Waffenlieferungen rechnen.

Zwei grundsätzlich gegen solche Lieferungen gerichtete Klagen waren zuletzt vor dem Berliner Verwaltungsgericht anhängig. Sie wurden abgewiesen. Einer der Kläger, der Berliner Kinderarzt Qassem Massri, sprach mit dem Freitag über diese Entscheidung und darüber, warum er seine Klage trotz aller Zweifel eingereicht hatte.

der Freitag: Herr Massri, Sie sind zuletzt vor das Berliner Verwaltungsgericht gezogen. Sie und ihr Vater haben die Bundesregierung wegen Genehmigungen deutscher Waffenlieferungen an Israel verklagt. Was war Ihre zentrale Motivation?

Qassem Massri: Ich habe das Gefühl, dass man in diesem Land kaum noch Mittel hat, sich gegen ein enormes Unrecht zu wehren – konkret gegen den anhaltenden Völkermord in Gaza. Mit der Klage wollten wir ein Mindestmaß an politischem Druck erzeugen: Die Bundesregierung sollte sich ernsthaft mit der Frage auseinandersetzen, was es bedeutet, Kriegswaffen an einen Staat zu liefern. Das geschieht bislang ohne Überprüfung und ohne jede Rücksicht auf internationales Recht.

Ich bin im letzten Monat 40 geworden. Fast 40 meiner Schulfreunde wurden in den letzten zwei Jahren getötet

Vor Beginn der Verhandlung haben Sie im Gericht gesagt, wie schwer es für Sie ist, die kalte, formaljuristische Sprache über dieses Thema auszuhalten – weil es für Sie um etwas zutiefst Persönliches geht?

Es geht um mein Leben. Diese nüchternen juristischen Begriffe stehen in keinem Verhältnis zu dem Leid, das meine Familie und Freunde erleben. Ich bin im letzten Monat 40 geworden. Fast 40 meiner Schulfreunde wurden in den letzten zwei Jahren getötet. Viele Menschen in Gaza haben nicht einmal das Privileg, so alt zu werden. Und dann sitzt man hier und hört Menschen in einer so distanzierten Sprache sprechen. Dieses unfassbare Leid wird behandelt, als gehe es um ein völlig abstraktes Thema. Für die Tragödien, die diese Entscheidungen mit sich bringen, war im Gerichtssaal kaum Platz.

Wie haben Sie das Verfahren ansonsten erlebt? Wie wirkten die vorgetragenen Argumente auf Sie?

Ehrlich gesagt: Für mich wirkte das Ganze wie ein Theaterstück, bei dem die Entscheidung bereits vorab feststand. Sehr früh hatte ich das Gefühl, dass der Ausgang für die Richterinnen und Richter bereits feststand. Die Art, wie argumentiert wurde, ließ wenig Raum dafür, dass unsere Perspektive gehört wird. Für mich war das von Beginn an spürbar.

Israel begeht seit Jahrzehnten Verbrechen am palästinensischen Volk. Nach 77 Jahren stellt man die Frage, ob sich Verbrechen wie in den letzten zwei Jahren wiederholen könnten?

Sie meinen nicht nur die anwaltliche Vertretung der Bundesregierung – sondern auch die Richter:innen selbst?

Ja. Mein Eindruck ergab sich aus den Argumenten, die sie wichtig fanden – etwa die Diskussion darüber, ob eine „Wiederholungsgefahr“ von Völkerrechtsverstößen durch Israel bestünde. Ich halte das für absurd: Israel begeht seit Jahrzehnten Verbrechen am palästinensischen Volk. Nach 77 Jahren stellt man die Frage, ob sich Verbrechen wie in den letzten zwei Jahren wiederholen könnten? Sie wiederholen sich doch längst! Sie finden auch in diesem Moment statt. Es gibt keine Bindung an internationales Recht. Und auch keine Anerkennung palästinensischen Leids. Im Gegenteil: Viele der israelischen Verantwortlichen sind überzeugt, ein Recht auf dieses Vorgehen zu haben. Diese Haltung – diese Leugnung – ist ein zentraler Aspekt des Völkermords. Für mich wirkte das gesamte Verfahren deshalb wie eine Inszenierung. Der politische Kontext – dass Deutschland sich erneut an einem Völkermord beteiligt – fehlte in meinen Augen.

Können Sie konkreter sagen, was Sie meinen?

Es wurde zum Beispiel nicht ernsthaft beleuchtet, welche rechtswidrigen oder zweifelhaften Entscheidungen getroffen wurden oder in welchem Ausmaß deutsche Politiker internationales Recht schlicht beiseitegeschoben haben. In vielen anderen Kontexten würde man so etwas Korruption nennen. In Deutschland nennt man das nicht so. Hier wird darüber einfach nicht gesprochen. Für mich wirkte das alles wie eine aufgesetzte Diskussion.

Dass die beiden Klagen abgewiesen wurden, hat Sie also nicht überrascht?

Nein. Wie gesagt, man tut so, als ginge es um rein technische Genehmigungen. Aber niemand sagt, wann genau geliefert wurde, in welchen Mengen, an wen, unter welchen Bedingungen. Es gibt keinerlei Transparenz. Unter diesen Voraussetzungen war absehbar, dass das Gericht den Weg des geringsten Widerstands gehen würde.
Fehlende Transparenz der Bundesregierung wurde auch vom Anwalt der anderen, vom European Center for Constitutional and Human Rights unterstützten Klage, Remo Klinger, deutlich kritisiert. Ihre Anwältin, Beate Bahnweg, hat das ebenfalls thematisiert. Ja, man hätte eine gewisse Transparenz an den Tag legen müssen, angesichts dessen, was hier im Raum steht. Es geht um Völkermord. Das ist keine kleine Sache.

Ich habe drei Wochen lang versucht, nach Gaza einzureisen – und bin gescheitert

Das Gericht hat darauf verwiesen, dass sich in Gaza durch das Waffenstillstandsabkommen jetzt eine neue Situation ergeben habe. Wie bewerten Sie dieses Argument?

Für mich gibt es keinen Waffenstillstand in Gaza. Der Genozid hat zu keinem Zeitpunkt pausiert. Am Anfang hatten wir parallel zwei Formen von Genozid: den direkten, durch gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Und den indirekten, durch die systematische Zerstörung medizinischer Infrastruktur sowie der Wasser- und Stromversorgung. Heute befinden wir uns in der Phase des lautlosen Genozids: Häuser und Wohnviertel werden zerstört, humanitäre Hilfe wird kontrolliert, Krankenhäuser bekommen weder ausreichend Medikamente noch Personal. Zugleich wird palästinensischem medizinischen Personal die Einreise nach Gaza verweigert.

Sie haben unlängst selbst versucht, nach Gaza einzureisen, richtig?

Ja. Ich bin auch erst vor wenigen Tagen zurückgekommen – nach drei Wochen gescheiterter Versuche. Zwei Missionen wurden ohne jede Begründung abgesagt. Bei der dritten wurde ich persönlich abgelehnt – wegen meiner palästinensischen Herkunft. Das zeigt, wie die Realität aussieht: Land wird weiter enteignet, Häuser werden zerstört, humanitäre Hilfe wird blockiert. Ärztinnen und Ärzte dürfen nicht einreisen. Krankenhäuser können nicht wiederaufgebaut werden. Medikamente und grundlegende Güter erreichen die Menschen nicht. Selbst Babymilchflaschen werden nicht hineingelassen.

Im Gericht haben Sie auch gesagt, dass Sie als Kinderarzt hier in Deutschland niemanden nach Herkunft, Identität oder Hautfarbe fragen – und dass Sie sich von der Beklagtenseite, also der Bundesregierung, dasselbe erwarten.

Absolut. In einem Staat, der sich demokratisch nennt, sollte man davon ausgehen können, dass bestimmte Grundwerte gelten. Es ist für mich selbstverständlich, dass man Kinder schützt, egal welche Religion oder Herkunft sie haben. Das ist das Mindeste, was man von einer Bundesregierung erwarten kann. Daran ist sie vollständig gescheitert.

Ich habe alles getan, für meine Eltern, für meine Familie, meine Freunde – und um zu versuchen, zu verhindern, dass weiter Waffen geliefert werden, mit denen Menschen getötet werden

Wie hätte Gerechtigkeit im Kontext des Verfahrens für Sie ausgesehen?

Eine juristische Niederlage hat für mich nichts mit der Erfüllung von Recht zu tun – oder mit Gerechtigkeit. Ein solches Urteil ist letztlich nichts weiter als ein bürokratischer Akt. Ich erwarte mittlerweile keine Gerechtigkeit mehr in Deutschland. Diese Hoffnung habe ich hinter mir gelassen.

Das klingt zynisch.

Aber es ist so. Meine Motivation war nie der Glaube, dass deutsche Institutionen meiner Familie oder mir Gerechtigkeit verschaffen würden.

Sondern?

Mir ging es darum, heute und für die Zukunft sagen zu können: Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht. Für meine Eltern, für meine Familie, meine Freunde – und um zu versuchen, zu verhindern, dass weiter Waffen geliefert werden, mit denen Menschen getötet werden. Ich möchte meinen Eltern in die Augen schauen können und sagen: Ich habe es versucht.