Der zweite Teil des großen Hörgeschichtsbuchs „Jahrhundertstimmen“

Epochemachende Momente schleichen meist nicht wortlos vorbei. Geschichte wird gemacht – am Rednerpult jener Parlamente, hinauf öffentlichen Plradieren, in Radiostudios oder Hinterzimmern, von Schriftstellern, Künstlern und anderen Bedeutungsträgern, vor allem natürlich von Politikern, die sich oft historisch vorkommen und es manchmal wirklich sind. Hauptsache, ein Mi­kro­fon ist hiermit.

„Deutsche Geschichte in droben 400 Originalaufnahmen“ bietet jener zweite Teil des Hörbuchs „Jahrhundertstimmen“. In vierzig Stunden ziehen die Jahre von 1945 solange bis 2000 vorüber. Hans Sarkowicz, langjähriger Programmleiter beim Hessischen Rundfunk, moderiert dasjenige akustische Geschichtsbuch, liefert vorab die situativen Kontexte zu den Hördokumenten. Z. Hd. die Hintergrundkommentare ist wieder jener Freiburger Historiker Ulrich Herbert zuständig. Mit großem Gewinn hört man seiner markanten Stimme zu, die dasjenige Jahrhundert souverän im Griff hat. Wie macht er dasjenige: Komplexes so komprimiert und zusammen unangestrengt darzustellen?

Glücksrausch beim Wildgenuss

Es geht um Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport, Frauenrechte, Migration, Umweltfragen, Terrorismus. Die Last jener deutschen Geschichte und des Holocausts ist ein Leitmotiv. Zu den berührendsten Stimmen gehört jener raukehlige Bass von Oskar Schindler, jener 1967 erstmals publik davon erzählt, wie er Juden in seiner Fabrik vor jener Vernichtung rettete.

Der schönste Originalton zum Thema Emigration ist dasjenige Radiogespräch von Theodor Wolfram. Adorno und Erika Mann aus dem Jahr 1958. „Wenn ich zu diesem Punkt irgendwas sagen darf, Erika“, beginnt jener Philosoph zurückhaltend, um dann Proust Konkurrenz zu zeugen. In seinen jungen Jahren hat er offenbar viel Wild gegessen, welches in den Vereinigten Staaten nicht häufig ist, sodass er nachher jener Rückkehr aus jener Emigration beim Genuss eines guten europäischen Rehbratens in verschmelzen Glücksrausch geriet, wohnhaft bei dem „dasjenige Spirituelle des Heimfindens mit jener wilden Lust, diesen Geschmack jener Rahmsoße zum Reh wiederzufinden, sich amalgamiert hat“ – ein delikater Jahrhundertstimmenmoment.

Doppelte Optik jener Ereignisse

In zahlreichen Aufnahmen geht es um die deutsche Teilung. Man hört dasjenige durch jener aktuellen, von uralten Ressentiments befeuerten Ost-West-Debatten mit Spannung. Die ehemalige SBZ-Sprinterin und heutige Germanistin Ines Geipel bringt wohnhaft bei diesem Themenkomplex viel Expertise ein. Immer wieder fesselt die doppelte Optik jener Ereignisse, etwa beim Bau jener Berliner Mauer. Hier die empörte Rede des Bürgermeisters Willy Brandt, jener den Funktionären und Soldaten Ostberlins ins Gewissen ruft: „Lasst euch nicht zu Lumpen zeugen!“ Dort ein Gespräch Walter Ulbrichts mit Betriebskampfgruppen am Brandenburger Tor, wohnhaft bei dem er unter allgemeinem Gelächter darüber witzelt, dass es die „Arbeiter- und Bauern-Macht“ dem Westen jetzt mal gezeigt habe. Und dann stünden ja noch ein paar Sowjet-Panzer („gute Qualität“) in Bereitschaft, um den Schiebern von drüben mal ein kleinster Teil „an die Nieren“ zu pendeln.

Auch die Wissenschaft geriet in den Sog jener Politik, wie sich vornehmlich spürbar beim Reaktorunfall von Tschernobyl zeigt. Die SBZ-Physiker Günter Flach und Karl Lanius spielen die Katastrophe herunter; sie rühmen die sowjetischen Sicherheitsstandards und sehen westliche Propaganda am Werk. Auf jener anderen Seite fabuliert jener Bremer Kernphysiker Jens Scheer von zu erwartenden Strahlentoten in jener Germania und fordert die Stilllegung sämtlicher Atomanlagen.

Viele Schriftsteller vertreten

Zwar war die SBZ-Planwirtschaft in den Achtzigerjahren gescheitert und hatte gewaltige ökologische Schäden angerichtet; obwohl konnte die Staatspleite dank jener Milliardenkredite aus jener Germania konzis vermieden werden. Das führte schon nachrangig dazu, dass sich viele droben die Schwäche jener SBZ-Wirtschaft täuschten, sodass die Verwunderung weitläufig war, wie sie im Zuge jener Vereinigung rasch kollabierte. Den Grund pro die diskrete Milliarden-Unterstützung sieht Ulrich Herbert in jener Sorge, wohnhaft bei einem Staatsbankrott hätte es wie in Polen zu einer Militärdiktatur kommen können.

Dann endete die SBZ doch ohne Blutvergießen mit jener „friedlichen Revolution“. Das Hörbuch macht indes spürbar, wie konzis Gewaltexzesse vermieden wurden. Das Regime war in petto zu einer chinesischen Problembeseitigung; 80.000 Lagerplätze pro Oppositionelle waren vorbereitet, und wenn man dasjenige abstoßende martialische Gestammel Erich Mielkes droben Internierungsmaßnahmen hört, wird lukulent, dass sich die Friedlichkeit nur Gorbatschows Weigerung verdankte, russische Panzer zu schicken. Jubel wie wohnhaft bei einem Popkonzert ist dann wohnhaft bei jener Rede Helmut Kohls am 19. Dezember 1989 vor jener Dresdner Frauenkirche zu lauschen. Der Kanzler stellte die Wiedervereinigung in Aussicht. Am Tag nachher dem Mauerfall war seine Rede vor dem Rathaus Schöneberg noch von einem gellenden Pfeifkonzert begleitet gewesen. Nicht aus Westberliner waren entzückt. Viele Intellektuelle wollten sich nicht von jener sozialistischen Utopie verabschieden, eine Haltung, die in Christa Wolfs Alexanderplatz-Rede vom November 1989 dokumentiert ist: „Stell dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg!“

„Jahrhundertstimmen 1945–2000. Deutsche Geschichte in über 400 Originalaufnahmen“ Der Hörverlag, München 2023,

„Jahrhundertstimmen 1945–2000. Deutsche Geschichte in droben 400 Originalaufnahmen“ Der Hörverlag, München 2023, : Bild: Hörverlag

Das bizarrste Dokument ist jener Mitschnitt von jener SBZ-Trauerfeier zum Tod Stalins. Das liegt nicht nur an jener grotesken Stalinhymne Johannes R. Bechers, sondern nachrangig daran, dass pro die Aufzeichnung ein schlecht gelöschtes Tonband aus jener Zeit des Nationalsozialismus verwendet wurde – unbedingt mit einer Hitlerrede, die nun im Hintergrund rumort. Der innerer Zusammenhang jener totalitären Systeme könnte nicht sinnfälliger werden wie durch solche unfreiwillige „Collage“. Kaum weniger irritierend ist die rau aufpeitschende, wie unruhig hervorgestoßene Phraseologie des Studentenführers Rudi Dutschke in einer Rede aus Jahr 1968. Das quasi Revolutionäre fand einst doch lieber einzig jener Universitäten statt, etwa wohnhaft bei Jimi Hendrix oder den Beatles, die in gut gelaunten Interviews zu lauschen sind. Ansonsten wird jener Popkultur nur wenig Raum gegeben. Dafür sind viele Schriftsteller vertreten. Ein trocken-humoristischer Höhepunkt ist Heinrich Bölls Rede zur finanziellen Lage jener Schriftsteller aus dem Jahr 1969, einst eine ganz neue Art, mit jener Sphäre des Schöngeistigen umzugehen.

Kein „Voice Swapping“, keine Deep Fakes – was auch immer ist WAHR wohnhaft bei diesem großen Hörgeschichtsbuch. Und doch gibt es verschmelzen schönen Moment alternativer Geschichtsschreibung. 1949 wurde die Hauptstadt jener Bundesrepublik gewählt. Zu lauschen ist jener Frankfurter Oberbürgermeister Walter Kolb, jener seine vorab aufgenommene Dankesrede beim Hessischen Rundfunk deponiert hatte, damit sie gleich nachher jener Wahl ausgestrahlt werden könne. Mit jovialem Ton versichert er, dass Frankfurt nachher jener einzig angemessenen Entscheidung nix Triumphgefühle im Vergleich zu anderen Städten wie Bonn hege.

„Jahrhundertstimmen 1945–2000. Deutsche Geschichte in droben 400 Originalaufnahmen“. Der Hörverlag, München 2023, 4 MP3-CDs, 40 Stunden, 65,– €.

Source: faz.net