Der Tod ist kein peinlicher Kunstfehler welcher Medizin
Alice und Ellen Kessler haben dem Tod die Hindernisse aus dem Weg geräumt. Mit 89 Jahren sind sie ihm auf halber Strecke entgegengekommen. Das Sterben, wie man es auch ansieht, ist und bleibt eine Gewalttat.
Der Soziologe Norbert Elias plädierte dafür, das Sterben dennoch gelassen hinzunehmen. Die Sterblichkeit sei ein Grund, warum wir uns bemühen müssen, unserem Leben einen Sinn zu geben. Die Kesslers hatten das Glück, ein sinnvolles Leben geführt zu haben; so jedenfalls erzählten sie selbst. Ihr Entschluss, dem Leben mithilfe des begleiteten Suizids ein Ende zu setzen, lässt sich nachvollziehen. Der Autor dieser Zeilen hat Respekt davor.
Darüber hinaus hat ihre Tat auch eine gesellschaftliche Bedeutung. Zum einen zeigt sie, was heute rechtlich möglich ist – zu wenige Menschen wissen, dass ein begleiteter Suizid keine juristischen Folgen nach sich zieht. Zum anderen bringt sie wie ein aufflammendes Zündholz mit einem Blitz Licht in einen dunklen und – vor allem – in einen leeren Raum. Es braucht dringend Gesetze, um todkranken oder alten Menschen zu gestatten, den Pfad leichter zu gehen, den sie für richtig halten.
Gesellschaftlich bedeutet dies auch, einen neuen Zugang zum Sterben zu finden. Wir leben in einer Welt, in welcher der Tod vor dem 100. Geburtstag mehr und mehr als ein peinlicher Kunstfehler der Medizin gesehen wird. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit wurden Sterbende derart hygienisch hinter den Kulissen des gesellschaftlichen Lebens fortgeschafft wie heute. Lieber wird das Unabdingbare verdrängt. Hoffentlich führt der Schritt der Kesslers zu einem Schub in der Debatte.
Source: welt.de