„Der Patient wollte eine Krankschreibung aufgrund von starkem Muskelkater“
Katja Wagenführer ist seit 15 Jahren Ärztin, seit zehn Jahren arbeitet die 42-Jährige als Hausärztin in einer großen Gemeinschaftspraxis im hessischen Friedberg. Gemeinsam mit mehreren Kollegen versorgt sie dort Patienten aller Altersgruppen – auch Kinder, weil es in der Region an Kinderärzten mangelt. In ihrem Praxisalltag erlebt sie täglich, dass die Krankschreibungen drastisch zugenommen haben.
WELT: Frau Wagenführer, wie viele Patienten haben Sie heute gesehen und wie viele von ihnen haben Sie krankgeschrieben?
Katja Wagenführer: Ich hatte bis 12 Uhr 25 Patienten, sieben habe ich krankgeschrieben.
WELT: Und waren diese Krankmeldungen alle unausweichlich?
Wagenführer: Ich biete die Krankschreibung nicht reflexhaft an. Aber ich finde, der Patient sollte selbst mitentscheiden – er steckt in seinem Körper, nicht ich.
WELT: Kommt es denn vor, dass jemand offen sagt: „Eigentlich brauche dringend eine Krankmeldung“ – und sprechen Sie dann über die Gründe?
Wagenführer: Ja. Sehr häufig erzählen mir Menschen von Stress auf der Arbeit, von Überlastung oder Konflikten. Ich nehme schon länger wahr, dass gerade psychische Erkrankungen massiv zunehmen. In einem Gesundheitsreport habe ich gelesen, dass psychische Diagnosen einen erheblichen Anteil an den Fehltagen ausmachen. Das entspricht sehr meinem Praxisalltag.
WELT: Also sind viele Beschwerden psychosomatisch?
Wagenführer: Ja. Viele kommen mit körperlichen Symptomen: ein Pfeifen im Ohr, Verdauungsstörungen, Schlafprobleme, Spannungskopfschmerzen. Dann frage ich: „Wie viel Stress haben Sie? Wie geht es Ihnen gerade wirklich?“ Nicht selten fangen Menschen dann an zu weinen.
WELT: Wie reagieren Sie dann?
Wagenführer: Ich lasse das zu, ermutige sie: „Es ist gut, dass Sie weinen. Sie spüren sich.“ Der Druck muss raus. Wenn ich das Gefühl habe, dass der Patient unter einer Depression leidet, frage ich gezielt die typischen Anzeichen einer Depression ab.
WELT: Welche sind das?
Wagenführer: Ich habe fünf Standardfragen, auch wenn es natürlich mehr Symptome gibt:
- Besteht seit mehr als 14 Tagen eine anhaltende Traurigkeit?
- Haben Sie Schlafstörungen?
- Hat sich Ihr Appetit verändert und haben Sie dadurch ab- oder zugenommen?
- Spüren Sie einen starken Antriebsmangel?
- Ziehen Sie sich sozial zurück, verlieren Sie das Interesse an Hobbys und Aktivitäten?
WELT: Betrifft das alle Altersgruppen oder sehen Sie Schwerpunkte?
Wagenführer: Das betrifft alle. Ich habe jüngere Erwachsene, Eltern, vor allem Frauen, weil Männer oft weniger darüber sprechen. Und ältere Menschen.
WELT: Was tun Sie, wenn Sie merken: Die Probleme sind psychischer und nicht physischer Art?
Wagenführer: Wenn mir jemand gegenübersitzt und sagt: „Ich kann nicht mehr. Ich schlafe kaum, schreie meine Kinder nur noch an, ich bin ausgebrannt“, dann ziehe ich mit ihm zusammen die Reißleine. Ich schreibe meist erst einmal eine Woche krank, vereinbare einen Kontrolltermin und mache einen Plan: Wie geht es weiter? Welche nächsten Schritte brauchen wir?
WELT: Warum haben psychisch bedingte Krankmeldungen aus Ihrer Sicht so stark zugenommen?
Wagenführer: Ich glaube, Menschen werden krank, wenn die Anforderungen dauerhaft größer sind als die verfügbaren Ressourcen. Es ist ein multifaktorielles Phänomen. Wir haben mehr Arbeitsbelastung durch Fachkräftemangel: weniger Personal, mehr Überstunden, höherer Zeitdruck, komplexere Aufgaben. Dazu kommt die ständige Erreichbarkeit.
Hinzu kommen unsichere Beschäftigungsverhältnisse, wirtschaftliche Sorgen und die weltpolitische Lage, etwa seit dem Beginn des Ukraine-Krieges. Menschen, die ohnehin ängstlich sind, werden dadurch noch stärker verunsichert.
WELT: Also sehen Sie Politiker und Arbeitgeber in der Pflicht?
Wagenführer: Ich habe manchmal den Eindruck, einige Arbeitgeber haben sich daran gewöhnt, mit zu wenig Personal das gleiche Pensum zu fahren. Das funktioniert aber nur, weil die, die noch da sind, ausbrennen.
Ein weiterer Punkt: Es gibt zu wenig Therapieplätze und die Wartezeiten sind lang. Wir Hausärzte überbrücken diese Zeit mit Krankschreibungen. Ich überweise zwar zum Psychiater, aber auch dort sind die Kapazitäten begrenzt. Deshalb verschreibe ich selbst deutlich häufiger Antidepressiva als noch vor einigen Jahren.
WELT: Was würde helfen?
Wagenführer: Mehr Therapieplätze und niedrigschwelliger Zugang, flexiblere Arbeitszeiten, Teilzeitmodelle, Homeoffice, wo es passt. Mehr Personal. Angebote zur Stressbewältigung und vor allem ein wertschätzender Führungsstil. Wer sich vom Arbeitgeber gesehen fühlt, ist häufig loyal – und eher bereit, auch mal einen Tag früher zurückzukommen.
WELT: Der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, hat vorgeschlagen, dass man erst ab dem vierten oder fünften Krankheitstag eine Bescheinigung braucht. Würde Sie das entlasten?
Wagenführer: Obwohl viele Arbeitgeber erst ab dem dritten Tag eine Bescheinigung verlangen, kommen viele Menschen bereits am ersten oder zweiten Krankheitstag. Sie wollen ihrem Arbeitgeber quasi einen Beweis liefern: „Sehen Sie, ich bin wirklich krank.“ Das Pflichtgefühl ist nach meiner Wahrnehmung immer noch sehr groß. Die meisten wollen Leistung bringen, dazugehören und nicht als schwach gelten.
WELT: Sie sagen die meisten, was ist mit dem Rest?
Wagenführer: Natürlich gibt es Menschen, die das System ausnutzen. Das erlebe ich auch.
„Ich kenne meine Pappenheimer“
WELT: Wie viele Ihrer Patienten kommen aus Ihrer Sicht nur, um sich einen gelben Schein zu holen, obwohl sie gesund sind?
Wagenführer: Ich würde sagen zwei Prozent, wenn überhaupt. Ich kenne meine Pappenheimer. Aber der große Teil der Patienten, die ich krankschreibe, ist wirklich krank: Wir hatten in den letzten Jahren massive Wellen von Atemwegsinfekten, Corona ist nach wie vor da, Influenza ohnehin. Und Muskel- und Skeletterkrankungen – Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfälle – sind ebenfalls ein riesiges Thema.
WELT: Dürfen Sie überhaupt eine Krankmeldung verweigern?
Wagenführer: Es ist nicht leicht, eine Krankmeldung strikt zu verweigern. Wir tragen eine enorme Verantwortung, auch rechtlich. Im Zweifel stelle ich eher eine kurze Krankschreibung über ein bis drei Tage aus, als zu riskieren, dass es dem Patienten schlechter geht.
WELT: Haben Sie ein Beispiel für die zwei Prozent?
Wagenführer: Neulich war ein 19-Jähriger bei mir, der am Tag zuvor Fußball gespielt hatte. Er wollte eine Krankmeldung aufgrund von starkem Muskelkater. Ich habe ihm gesagt: „Muskelkater ist kein Grund für eine Krankschreibung. Das ist Ihrem Arbeitgeber gegenüber nicht fair.“ Das ist dann auch ein bisschen Erziehungsarbeit.
WELT: Es wird ja gern über die Gen Z geschimpft. Die jungen Leute seien arbeitsscheu, holten sich wegen jeder Kleinigkeit eine Krankmeldung. Entspricht das Ihrer Erfahrung?
Wagenführer: Nein. Ich erlebe sehr viele junge Menschen als fleißig, verantwortungsbewusst und arbeitswillig. Viele gehen eher über ihre Grenzen. Sie stehen auch unter hohem Druck: Social Media verstärkt den Vergleich, die Anforderungen im Job steigen. Man hat das Gefühl, alles können zu müssen.
Ich würde dieser Generation nicht unterstellen, sie sei faul. Eher ist das Bewusstsein ein anderes: Sie hören mehr auf ihren Körper und auf ihre Psyche, sie akzeptieren eher, dass es ihnen schlecht geht, und suchen schneller Hilfe. Vielleicht lassen sie sich manchmal auch früher krankschreiben – aber das ist nicht per se negativ.
WELT: Ist die Zunahme von Krankmeldungen für Sie eher ein Zeichen von gesunder Selbstfürsorge – oder ein Problem?
Wagenführer: Beides. Ich finde es gut, dass Menschen nicht mehr halb krank zur Arbeit gehen und alles verdrängen. Gleichzeitig sehe ich, dass das System nicht funktioniert.
In der Pflege, in Arztpraxen, in Schulen, Kitas – überall fehlt Personal. Die, die noch da sind, arbeiten am Limit, bis sie irgendwann eine Krankschreibung brauchen. In der Summe ist das eine schlechte Entwicklung: Wir haben tolle Berufe, eigentlich sinnstiftend und erfüllend. Aber wenn die Rahmenbedingungen so bleiben, verlieren viele die Freude daran. Dann will irgendwann niemand mehr Altenpflegerin, Erzieher, Lehrer oder Ärztin sein.
WELT: Ab wann ist man aus ärztlicher Sicht wirklich zu krank, um zu arbeiten?
Wagenführer: Es gibt klare Fälle: Fieber, eine Lungenentzündung, ein Knochenbruch oder Bänderriss, akuter Durchfall und Erbrechen, eine schwere Migräne oder massiver Dreh- beziehungsweise Schwankschwindel, eine Blutdruckentgleisung. Da kann man nicht arbeiten, Punkt.
Und dann gibt es Graubereiche, in denen der Leidensdruck, die Art der Tätigkeit und die Frage, ob eine Krankschreibung überhaupt hilfreich ist, eine Rolle spielen.
WELT: Können Sie ein Beispiel nennen?
Wangenführer: Eine Patientin hatte ihren Mann verloren. Ich habe sie zunächst krankgeschrieben – aber irgendwann waren sechs Wochen um. Dann habe ich sie ehrlich gefragt: „Tut Ihnen das Alleinsein zu Hause wirklich gut? Ihr Beruf macht Ihnen doch eigentlich Spaß, Sie haben dort soziale Kontakte und Struktur.“ Wir haben uns dann auf eine stufenweise Wiedereingliederung geeinigt. Im Nachhinein hat sie gesagt, das sei genau richtig gewesen.
WELT: Sie sagten, dass viele bereits am ersten Krankheitstag kämen. Woran liegt das?
Wagenführer: Die Menschen schämen sich dafür, krank zu sein und nicht leisten zu können. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Patienten beweisen wollen, dass sie krank sind. Dann husten sie extra häufig oder sagen: „Ich bin eigentlich nie krank.“
„Nein. Sie haben nur dieses eine Leben“
WELT: Gab es Fälle, in denen Sie jemanden regelrecht zur Krankschreibung zwingen mussten?
Wagenführer: Ja. Ein Industriebäcker im Drei-Schicht-Betrieb, Ende 50, mit einer chronischen Lungenerkrankung, einer COPD. Er kam zu mir, atmete wie eine Lokomotive, die Lunge hat gepfiffen und gebrummt, der Auswurf war gelb-grün.
Auf meine Frage nach der Krankschreibung meinte er: „Bitte nicht, ich muss morgen wieder arbeiten gehen.“ Da habe ich klar gesagt: „Nein. Sie haben nur dieses eine Leben. Wenn Sie das jetzt nicht richtig auskurieren, landen Sie womöglich im Krankenhaus und dann fallen Sie viel länger aus.“
WELT: Also sind die Menschen nicht fauler geworden, sondern die Lebensumstände haben sich verschlechtert?
Wagenführer: So erlebe ich das. Die wenigsten suchen sich bewusst Auswege. Viele sind erschöpft, weil das System sie überlastet. Wenn Kopf und Körper nicht mehr im Einklang sind, zeigt sich das irgendwann in einem Organsystem: Bei dem einen in der Lunge, beim anderen im Verdauungstrakt, beim nächsten in der Haut. Stress verschiebt dieses Gleichgewicht massiv – und macht dann irgendwann krank.
WELT: Haben Sie einen Geheimtipp gegen Stress?
Wagenführer: Eigentlich vier.
- Bewegung. Sport setzt Glückshormone frei, reduziert Stress, hilft beim Abschalten und dabei, sich selbst wieder zu spüren.
- Schlaf. Chronischer Schlafmangel macht krank und verstärkt Stress.
- Ernährung. Unser Darm hat großen Einfluss auf unser gesamtes System. Wer sich nährstoffreich ernährt, tut seinem Körper und damit auch seiner Psyche etwas Gutes.
- Sprechen. Über Sorgen, Ängste, Gedanken zu reden, entlastet ungemein.
Source: welt.de