Der Fall Ulrike Guérot: Glatt kein Justizirrtum

Nachdem der Vorsitzende der Kammer das Urteil des Landesarbeitsgerichts Nordrhein-Westfalen im Streit zwischen Ulrike Guérot und der Universität Bonn verkündet und den Termin beendet hatte, gab es noch eine in der Prozessordnung nicht vorgesehen Wortmeldung aus dem Publikum. Eine ältere Dame in der ersten Reihe des Kölner Sitzungssaals teilte dem Richter ihre Ansicht mit, dass die Entscheidung „im Namen der Justiz“ vielleicht ihre Richtigkeit habe, aber nicht „im Namen des gesamten Volkes“. Ihre Sitznachbarin schloss sich dieser Bekundung an.
Der Einspruch war im Grunde fast zurückhaltend formuliert, man hätte ihn sich noch radikaler vorstellen können, als Gegen-Urteil im Namen des (ganzen) Volkes, strömt der Klägerin ihre erstaunliche Popularität inzwischen doch hauptsächlich aus einem Milieu zu, in dem die Legitimität des Staates und seiner Maßregeln grundsätzlich in Zweifel gezogen wird. Ulrike Guérot war nicht erschienen, obwohl sie den Termin noch zwei Tage zuvor ihrer Twitter-Gefolgschaft kund gemacht hatte, und hatte auch keinen Anwalt geschickt. Die beiden Zuhörerinnen sprangen mit ihrem letzten Wort sozusagen für die Klägerin ein, Pflichtverteidigerinnen aus bürgerlicher Zuneigung. Sie waren unnötig früh gekommen; anders als bei der Berufungsverhandlung am 16. Mai war der Saal nicht überfüllt.
Der Vergleichsvorschlag wurde ausgeschlagen
Zum legitimitätssoziologischen Gegensatz zwischen der Justiz, hier angesprochen als Stab akademisch qualifizierter Fachleute, die kraft ihrer Dienststellungen technische Lösungen von Rechtsproblemen verbindlich machen können, und dem Volk, dessen Rechtsempfinden die von ihm nominell autorisierten Urteile nach volkstümlicher Vorstellung irgendwie doch entsprechen müssen, ist zu sagen, dass in der Arbeitsgerichtsbarkeit die Berufsrichter nicht allein die Justiz bilden. Sowohl in der ersten wie in der zweiten Instanz stellen die Laienrichter, paritätisch nominiert von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Mehrheit der Kammern. So soll die Lebenserfahrung mit den spezifischen Gerechtigkeitsproblemen des Arbeitslebens in die Verfahren eingehen. Diese sind auf Konfliktbeilegung ausgerichtet. Entsprechend stellte das Gericht auch in vorliegendem Fall den Parteien einen Vergleichsentwurf zu. Es war mutmaßlich die Klägerin, die den Vergleich ausschlug, da der Vorschlag vermutlich die von Guérot in der mündlichen Verhandlung aufgestellte Forderung nicht erfüllte, sie müsse unbedingt in ihr Bonner Professorenamt zurückkehren können.
Arbeitsrechtsschutz bedeutet, Möglichkeiten eines Arrangements auszuloten. Die dem Einzelnen günstige Grundtendenz des Arbeitsrechts traf im Bonner Fall zusammen mit einem Rechtsgebiet, in dem der Eigensinn von Individuen geschützt und sogar in exzentrischen Varianten gefördert wird. Guérot wurde zur Last gelegt, bei der Bewerbung um die Bonner Professur für Politikwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung europäischer Vernetzungen Schriften eingereicht zu haben, in denen misstrauische Fachkollegen später unausgewiesene Übernahmen aus Texten anderer Autoren fanden.
Textarbeit von Wissenschaftlern genießt den Schutz der Wissenschaftsfreiheit, und nicht nur Plagiate, sondern auch Plagiatsvorwürfe können diese Freiheit beeinträchtigen, weil in der Wissenschaft kein neues Wissen ohne Weitergabe von altem Wissen produziert wird. Das Urheberrecht kann in dieser arbeitsteiligen Sphäre nicht in gleicher Weise durchschlagen wie in der Kunst. Es muss, mit Volkes Stimme gesprochen, ein dreister Fall vorliegen, wenn die Arbeitsgerichte jetzt in zwei Instanzen zu dem Ergebnis gekommen sind, dass der Universität Bonn die Weiterbeschäftigung einer Plagiatorin nicht zuzumuten ist.
Täuschung über die Täuschungen
Eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber der Kündigung kam gemäß den mündlichen Erläuterungen des Kammervorsitzenden nicht in Betracht, weil die Universität mit einer Wiederholung des Fehlverhaltens rechnen musste. Nicht erst als Professorin, so der entscheidende Punkt des Urteils, sondern schon als Bewerberin um eine Professur musste sich Guérot an die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis halten. Der Vorsitzende hob hervor, dass es im Bewerbungsverfahren ein „konkretes Aufforderungsschreiben“ gab, mit dem fünf Schriften verlangt wurden, welche die Bewerberin selbst auswählen durfte. Guérots Antwort auf dieses Schreiben ist für die Kammer nicht so auszulegen, wie sie es vorgetragen hatte: Sie habe die Kommission zur Prüfung veranlassen wollen, ob ihre Schriften wissenschaftlichen Charakter hätten, aber selbst diesen Anspruch nicht erhoben. Guérot täuschte nach Überzeugung des Gerichts die Berufungskommission über die in ihren Schriften enthaltenen Täuschungen, selbst wenn sie diese Täuschungen vor sich selbst verleugnet haben sollte.
Das ist ein epistemologisch anspruchsvoller Gedanke, aber diese Strenge ist wohltuend angesichts der erkenntnistheoretischen Verwirrung, die weite Teile der öffentlichen Diskussion erfasst hat und von Ulrike Guérot mit ihrer Agitation in der Corona- und der Russland-Frage verkörpert wird. Mit ihrem unverwüstlichen Enthusiasmus erzeugt und verbreitet sie Pseudo-Zweifel, die alle zum Handeln erforderliche, in einer wissenschaftlichen Welt nur provisorisch mögliche Sicherheit zerstören sollen. Dass zwei Textpassagen identisch sind und eine Fußnote gesetzt wurde oder nicht, lässt sich aber objektiv feststellen. So werden auch studentische Arbeiten bewertet.
„Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie“ heißt das Buch von 2016, das die Universität Bonn als Äquivalent einer Habilitation akzeptierte. Im gestrigen Protest vor der Kölner Richterbank wurde kein Justizirrtum behauptet. Ein Republikanismus artikulierte sich, der die Rationalität juristischer Verfahren noch nicht einmal bestreitet und dennoch verlangt, dass das Volk seinen Willen bekommt.
Source: faz.net