„Der einzige Ort aufwärts diesem Planeten, an dem ich mich noch zu Hause fühle“
Kann man Theodor W. Adorno ohne den Odenwald überhaupt verstehen? Nein, sagt Thomas Meineckes Roman „Odenwald“, der Amorbach zum Zentrum der Adorno-Welt erklärt. Warum Sie diese 400 Seiten Adorno garantiert noch nicht kannten.
Die heroische Phase der Postmoderne, das unbedarfte Spiel der Zeichen, scheint vorbei zu sein. Es herrscht eine neue Eindeutigkeit, auch in der Kunst. Nur einer ist noch lange nicht am Ende: Thomas Meinecke, der letzte Postmodernist der Literatur. Das ist natürlich übertrieben, ganz allein ist er nicht. Doch beim Lesen von Meineckes neuestem Roman „Odenwald“ bekommt man ganz schön Retrogefühle, vor lauter Dekonstruktionsemphase. Ist das noch ein Roman? Oder eher ein Rhizom, wie Generationen von Deleuze-und-Guattari-Fans bei jeder Gelegenheit zu sagen pflegten?
Das auf über 400 Seiten ausufernde Collagekunstwerk des Schriftstellers („Tomboy“, „Hellblau“, „Selbst“) und Musikers („Freiwillige Selbstkontrolle“) nimmt die Leser mit auf eine Reise in den Odenwald. Genauer gesagt: nach Amorbach. Ein idyllisches 4000-Einwohner-Städtchen, über das Theodor W. Adorno sagte, es sei „der einzige Ort auf diesem fragwürdigen Planeten, an dem ich mich im Grunde noch zu Hause fühle.“ Wie man in Meineckes Buch erfährt, wurde vergangenes Jahr eine Gedenktafel für Adorno in Amorbach enthüllt – ausgerechnet am Tag des Massakers in Israel, am 7. Oktober.
Überhaupt erfährt man viel in „Odenwald“, zum Beispiel über das seit Jahrhunderten dort ansässige Fürstengeschlecht mit seinen grotesken Regeln zur Erbfolge und über die geknechteten Bauern, die im 19. Jahrhundert ihr Glück lieber in Texas suchten. Immer wieder geht es um die „Neue Welt“ in Amerika und das „Alte Europa“, die viel enger verbunden sind als es auf den ersten Blick scheint. Meinecke legt ein dichtes Geflecht an historischen, literarischen und musikalischen Beziehungen über das Geografische, so entsteht eine idiosynkratische künstlerische Kartografie – ein imaginärer Odenwald. Ein Märchenwald?
Was Meinecke verwebt oder mit groben Stichen vernäht, wirkt wie eine willkürliche Sammlung. Oder eine „freie Assoziation“, wie man in der Psychoanalyse sagt. Allein der Hashtag #adornobach bringt einiges zum Vorschein: Eine Traumnotiz von Adorno, in der der rötliche Sandstein der nordamerikanischen Westküste dem von Amorbach zum Verwechseln ähnlich ist. Sein Singspiel „Der Schatz des Indianer-Joe“ nach Mark Twain und seine berüchtigte Jazz-Kritik. „Keine Kritische Theorie ohne Amerika“, sagte der Adorno-Schüler Detlev Claussen einmal. Meinecke macht daraus nun Literatur.
„Odenwald“ ist Recherche und Collage zugleich. Man sieht die gute alte Zitierwut der Postmoderne am Werk, bedient wird sich aus Büchern, Reden, Briefen und Chats. Auch wissenschaftliche Texte über den Autor Thomas Meinecke – Selbstreferenzialität als Königsdisziplin unter den postmodernen Schreibstrategien! – kommen immer wieder vor. So zum Beispiel auf Seite 116, was sich wie ein Einblick in das Gestaltungsprinzip von „Odenwald“ liest: „Der Autor Meinecke nimmt seine Autor_innenschaft zurück, indem er sein Schreiben vor allem als Dokumentation seines Lesens wahrnimmt.“
Neben der deutsch-amerikanischen Grenzverwischung (der Roman endet mit den Worten: „Manche hielten den Western sogar für eine deutsche Erfindung.“) gibt es eine weitere Assoziationskette, die sich durch „Odenwald“ zieht: die der Diffusion der Geschlechter. Von mittelalterlicher Literatur über Honoré de Balzac bis Judith Butler und Paul B. Preciado reicht die Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit, die Meinecke hier Revue passieren lässt. Was ist „Odenwald“? Eine Notizensammlung? Oder ein großer postmoderner Roman? Jedenfalls ein Buch, das sich allen Festlegungen entzieht.
Thomas Meinecke: „Odenwald“. Suhrkamp, 440 Seiten, 26 Euro
Source: welt.de