„Der 8. Oktober“ von Eva Illouz: Der Tag nachdem
Die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz hat einen Essay über den 8. Oktober 2023 geschrieben – nicht über den 7., den Tag des Hamas-Massakers auf israelischem Staatsgebiet, sondern über jenen
Folgetag, der eine weitere Erschütterung für alle Juden bereithielt: das
ausbleibende Mitgefühl gegenüber den Opfern, das pikierte Schweigen, ja sogar
das Triumphgeheul über die Kommandoaktion der Terroristen in großen Teilen der
Welt, insbesondere unter Intellektuellen, in der Kultur und im
Universitätsbetrieb. „Wie
sollten wir da nicht vor Erstaunen und Freude aufschreien?“, schrieb der
schwedische Ökomarxist Andreas Malm damals begeistert unter dem Eindruck des
Blutbades.
In Eva Illouz‘ eigenem Umfeld, in der internationalen
linken Theorieszene, reagierten viele keineswegs bestürzt oder trauerten,
sondern sie zeigten vielmehr vom ersten Augenblick an Verständnis für den
palästinensischen Terror. Sie werteten ihn, wie beispielsweise die queere und
selbst jüdische Feministin Judith Butler, als einen Akt des bewaffneten Widerstands. Illouz, auch Jüdin, wurde von der Heftigkeit und der Einhelligkeit
dieser propalästinensischen Reaktion überrascht. Es war eine Reaktion, die sehr
bald nicht nur die israelische Regierung, sondern die Juden insgesamt betraf
und sich heute als offener Antisemitismus zeigt, wohlgemerkt am heftigsten in bestimmten
Bereichen der Kultur und des universitären Betriebes.
Die ihrem Selbstverständnis nach linke und gegenüber
der israelischen Politik unter Netanjahu kritisch eingestellte Illouz sieht
sich heute unter die Repräsentanten eines „genozidalen Regimes“ gerechnet und
soll deren Taten mitverantworten. Ausgerechnet im Bereich der historischen, der
soziologischen und der philosophischen Theorie scheint kein Raum mehr für
Unterscheidungen und Differenzierungen zu existieren. Ähnlich widerfuhr es dem jüdischen
Dirigenten Lahav Shani, als er Mitte September von einem Musikfest in Belgien
ausgeladen wurde, weil er vor seinem Auftritt keine propalästinensische
Erklärung unterschreiben wollte, ungeachtet seiner tatsächlichen politischen
Position. Das kulturelle Klima ist aggressiv geworden.
Illouz möchte nun wissen, wie kluge Menschen,
Kolleginnen und Kollegen, Wissenschaftler oder Autoren, sich in vehemente Antisemiten
verwandeln konnten, ohne das Gefühl zu haben, die eigenen intellektuellen
Standards zu unterschreiten. Der neue Judenhass sieht sich moralisch im Recht, und er ist intellektuell. Inzwischen hat sich die Bezeichnung
„Campus-Antisemitismus“ dafür durchgesetzt. Illouz‘ Rekonstruktion dieser
Gemengelage bedient sich im Wesentlichen aus vier Feldern: aus theoriegeschichtlichen, soziologischen, historischen sowie institutionsgeschichtlichen Argumenten. Sie schreibt aus der Warte einer klassischen
postmarxistischen Linken, die immer am europäischen Paradigma der Rationalität
festgehalten hatte und politische Kritik mit universellen, also als
vernünftig ausweisbaren Prinzipien zu begründen versucht. Diese Linke ist eher
marginal geworden. Im – anders linken – Theoriemilieu wird sie inzwischen als
Verbündete des Imperialismus und Kolonialismus angefeindet.
Im Zentrum steht bei Illouz folglich eine
Bestandsaufnahme jener aufklärungskritischen French Theory, die sich mit
den Namen Derrida und Foucault verbindet, mit Lacan, Deleuze und Guattari. Die
französische Philosophie der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte die Idee eines
sich vernünftig kontrollierenden Subjekts infrage gestellt – und daraus hatte
sich in den letzten Jahrzehnten die für die globalen Geisteswissenschaften wohl einflussreichste Theorieformation entwickelt. Illouz behauptet, wobei sie die
alte postmarxistische Kritik am Poststrukturalismus und an der Dekonstruktion wieder
aufnimmt, diese Theorie habe gewissermaßen die Welt in eine nach Analogie der
Sprache organisierte Matrix verwandelt. Und sie habe damit auch eine paranoide
Suche nach deren innerer Logik ausgelöst – einer Logik, die tiefer gelegen und
deswegen „wahrer“ sei als gesellschaftliche oder ökonomische Verhältnisse.
Diese innere Logik wäre dann also überhistorisch und erlaube, auch längst abgelegte, vergangene Konflikte als aktuell anzusehen, das heißt: als nie endende, ewige Konflikte. Als zudem dekolonisierender
politischer Diskurs verbleibe diese Weltdeutung immer in demselben antiwestlichen
Befreiungskampf, einem Kampf, in dem Aufklärung nichts ausrichtet, und der deswegen ständiges Engagement und tägliche Stellungnahme erforderlich mache.
Die Institution Universität, so Illouz weiter,
unterhalte auch nach dem Ende der Globalisierung noch immer funktionierende
weltweite Netzwerke und habe sich diesem Denken flächendeckend und vorbehaltlos
geöffnet. Die Erzählung von einer Welt, die von der westlichen Vernunft
korrumpiert worden ist und sich daher bis heute von dieser Entstellung befreien muss,
sei beinahe überall in der akademischen Sphäre beherrschend geworden. Dieses
Narrativ wisse nun auch, dass sich sämtliche den Westen betreffende Befreiungskämpfe, Völkermorde und gesellschaftliche Ausgrenzungen noch einmal in
Israel fokussierten. Darüber sei die Universität zum Schauplatz einer weitgehend
imaginären, jedoch mit religiöser Inbrunst ausgetragenen politischen Pseudopraxis geworden.
Ein „transzendentaler Antizionismus“ habe sich etabliert, der die
antirassistischen und demokratischen Absichten des historischen Zionismus nicht
einmal mehr zur Kenntnis nehme.