Deezer-Chef Folgueira: „Es sind nicht alle Tracks gleichwertig“

Der Verkehr in Paris: Jeronimo Folgueira kommt ein wenig zu spät zum Video-Gespräch mit der F.A.Z. Die Stimmung des Spaniers trübt aber auch dieser keineswegs: „Es war ein phantastisches Jahr“, blickt er zurück, einmal angekommen in der Mitte März neu bezogenen Deezer -Zentrale. „Vor allem haben wir einem wirklich schwierigen Marktumfeld zum Trotz den Börsengang geschafft und 140 Millionen Euro eingenommen, was mehr als genug ist, um unseren Businessplan bis zum Break-even umzusetzen. Das war für mich die wichtigste Aufgabe 2022.“

Auch ohne den nach einem ersten Anlauf im Jahr 2015 nun per SPAC-Deal geglückten Börsengang wäre es Folgueira wohl alles andere als langweilig geworden. Nach der Einstellung eines neuen Finanzchefs zu Beginn des Jahres besetzte er zwei weitere Posten in der Führungsetage neu. Folgueira, Anfang 40, steht selbst noch nicht allzu lange an der Spitze des französischen Musikstreaming-Dienstes. Zuvor unter anderem für das Online-Dating-Unternehmen Spark Networks tätig, übernahm er Mitte 2021 den Posten vom langjährigen Chef Hans-Holger Albrecht.

„Musik ist immer noch sehr günstig“

Um auf dem hart umkämpften Streamingmarkt zu bestehen, hat Folgueira Deezer eine neue Strategie verpasst. Dazu gehören unter anderem Preiserhöhungen. Schon im Februar dieses Jahres – also lange vor dem vielbeachteten Schritt von Apple – verabschiedete sich Deezer als erster größerer Musikdienst auch in Deutschland vom Standardpreis 9,99 Euro. Mit Erfolg, wie Folgueira sagt: „Wir haben unsere Preise überall erhöht und im Prinzip fast keine Abgänge unter den Abonnenten verzeichnen müssen, die Rate war 2022 niedriger als 2021.“ Andere Säulen seiner Strategie sind ein klarer Fokus auf Kernmärkte und Partnerschaften, in denen der Musikdienst als Teil eines größeren Pakets angeboten wird: sei es von Unternehmen aus dem E-Commerce, Telekommunikationsgesellschaften oder im Rahmen von breit aufgestellten Streamingangeboten wie Bertelsmanns RTL+.

„Der Großteil der strategischen Veränderungen ist umgesetzt“, sagt Folgueira. Das B2B-Team arbeite daran, die anvisierten Partnerschaften unter Dach und Fach zu bringen. Besonders im Fokus stünden Italien, Spanien, die Niederlande, USA und Kanada. Kernmärkte für das „klassische“ Konsumentengeschäft ohne Mittelsmänner seien Brasilien, Deutschland und Frankreich. Der heimische Markt ist der einzige, für den Deezer gesondert den Umsatz ausweist. 202 Millionen Euro waren es dieses Jahr nach 9 Monaten – bei Gesamteinnahmen von 334,6 Millionen nach 297 Millionen im Vorjahreszeitraum.

„Nach zwei schwierigeren Jahren wächst der Deezer-Umsatz jetzt wieder im gesunden zweistelligen Bereich, und wir konnten auch die operativen Verluste eindämmen, da sind wir auf Kurs“, sagt Folgueira. Zum Halbjahr wurde ein operatives Minus von 52,6 Millionen Euro vermeldet. Bis 2025 soll Deezer profitabel sein, so das ausgegebene Ziel. Obendrein peilt er für dasselbe Jahr die Umsatzmilliarde an. Dass der Dienst weitere Abonnenten verliert – im Vorjahresvergleich waren es zuletzt mit 9,4 Millionen 300 000 weniger als 2021 – nimmt Folgueira in Kauf: „Man muss Prioritäten haben, und Profitabilität ist das Ziel Nummer eins. Umsatzsteigerung kommt danach und dann das Wachstum des Abonnentenstamms.“

B2B-Fokus als „strategischer Vorteil“ für Deezer

Die Abgänge sind eingepreist, unprofitables Marketing abseits der Kernmärkte werde sukzessive zurückgefahren, sagt Folgueira. Auch das werbefinanzierte Gratismodell habe man in 140 Ländern eingestellt, „da wir damit Verluste gemacht haben und uns das nicht weiter erlauben können und wollen“. Französische oder deutsche Hörer könnten es weiter nutzen. Während Marktführer Spotify das Werbegeschäft weiter stärken will, ist der Bereich für Deezer kaum relevant. Rund zwei Prozent des Gesamtumsatzes mache er aus, sagt Folgueira, „die im Zuge der Krise schwierigere Lage auf dem Werbemarkt spüren wir also kaum“.

Vergleiche mit Spotify oder anderen großen Diensten drängen sich ohnehin nicht auf, zu groß ist der Abstand. 195 Millionen Abonnenten vermeldeten die Schweden Ende des dritten Quartals. Folgueira will Deezer daher in einer Nische etablieren, für die sich die Konkurrenz nicht interessiere: „Der B2B-Fokus ist unser strategischer Vorteil, wir sind der einzige Dienst, der hier als Partner wirklich infrage kommt. Bei den Tech-Riesen gehört die Musikplattform zu sehr ins eigene Ökosystem, als dass sie diese an andere abgeben würden. Und Spotify setzt klar auf das B2C-Modell und will aktuell das Werbegeschäft stark ausbauen.“

So selbstbewusst und zuversichtlich Folgueira wirkt, im Kurs der Deezer-Aktie spiegelt sich all das derzeit nicht wider. Ein Minus von mehr als 40 Prozent steht seit dem Börsengang im Juli zu Buche. Folglich spricht er den „Elefanten im Raum“, wie er es ausdrückt, gleich direkt an. Ja, die Aktie sei deutlich gesunken, aber das gelte „auch für die Spotify-Aktie und hat nichts mit unserer Strategie zu tun. Die Märkte haben da überreagiert, denke ich, denn das Musik- und gerade das Streaminggeschäft wächst weiterhin stabil“. Und überhaupt: Dauernd auf den Aktienkurs zu schauen sei keine Option, wenn man ein Unternehmen zu führen habe.

„Immer schwerer für neue Künstler, eine Hörerschaft aufzubauen“

Tatsächlich erweist sich die Musikindustrie als solche und mit ihr das wichtige Streaminggeschäft als beachtlich stabil. „Musik ist immer noch sehr günstig, ein Nutzer bekommt sehr viel für sein Geld“, nennt Folgueira einen Grund. „Bevor Abonnenten das Musikstreaming-Abo kündigen, kündigen sie viele andere Dinge, denn kaum jemand will noch einmal auf den Zugang zum gesamten Katalog an Musik verzichten.“ Auch das dürfte die Konkurrenz neben den guten Erfahrungen von Deezer optimistisch stimmen. Nachdem Apple kürzlich die Preise erhöht hat, werde die Konkurrenz folgen, ist Fol­gueira sicher. Spotify habe es ja schon angedeutet. Dass Apple für seinen Schritt mehr Applaus bekommen habe als Deezer Monate zuvor, sei eben das Schicksal des kleineren Player, sagt er lachend.

Forsch gibt sich Folgueira derweil auch in Debatten rund ums Streaming an sich. Ende Oktober hatte Universal Music- Chef Lucian Grainge gegenüber Investoren angesichts 100.000 täglich neu hochgeladener Songs auf den Diensten argumentiert, diese Masse an Songs sei weder gut für Nutzer noch für die Plattformen an sich. So stießen die Hörer vermehrt auf Inhalte in schlechter Qualität, und die Nutzer-Erfahrung leide generell. Schließlich abonnierten Musikfans die Dienste für gute Musik. Dass Grainge vor allem den Katalog des weltgrößten Musikkonzerns im Sinn hatte, liegt auf der Hand.

Wohl einer der mächtigsten Player der Musikindustrie: Universal Music-Chef Lucian Grainge führt den größten Musikkonzern der Welt seit mehr als 10 Jahren. : Bild: EPA

Der Deezer-Chef nimmt den Ball aber nur zu gerne auf: „Ich stimme Lucian Grainge zu, er hat einen Punkt mit Blick auf die große Menge an Musik, die heutzutage neu auf den Diensten erscheint“, sagt Folgueira. Es sei wirklich schwierig, neue Musik gezielt zu entdecken, „obwohl wir alle sehr gute Empfehlungen liefern. Und es ist deshalb auch immer schwerer für neue Künstler, eine Hörerschaft aufzubauen.“

„Manch einer lädt den Sound seiner Spülmaschine hoch“

Für die Masse an neuen Songs sorgen laut Folgueira vor allem die Digitalvertriebe, über die jeder seine Musik gegen einen geringen Betrag auf den Diensten hochladen kann. Die hohen Hürden von einst sind längst vergessen, doch die Entwicklung habe Schattenseite, findet Folgueira: „Da veröffentlichen viele unglaublich talentierte Musiker ihre Songs, aber manch einer lädt eben auch den Sound seiner laufenden Spülmaschine hoch.“ Damit spielt er auf teils abermillionenfach ge­streamte „White Noise“-Stücke an.

Es gibt zahlreiche solcher Tracks, die nur aus einem wie auch immer gearteten Rauschen bestehen und bei Nutzern zur Entspannung mitunter sehr beliebt sind. Für ihre Produzenten ist das ein attraktives Geschäft. Nicht nur Folgueira sieht darin aber ein Problem: „Es sind nicht alle Tracks gleichwertig, aber aktuell wird ein White-Noise-Track bei der Abrechnung genauso behandelt wie der Song eines Grammy-Preisträgers, und das darf einfach nicht sein.“ Der scheidende Warner- Music -Chef Steve Cooper argumentierte jüngst im Gespräch mit der Branchenseite „Music Business Worldwide“ ähnlich.

Natürlich weiß Folgueira, obwohl noch nicht allzu lange im Musikstreaming-Geschäft, wie schwierig eine Diskussion über „hochwertige“ und „weniger hochwertige“ Musik ist – erst recht, wenn es am Ende ums Geld geht. „Die große Herausforderung für die Musikindustrie ist es, sich hier auf einen Weg zu einigen“, formuliert er diplomatisch. „Das ist ein sehr kompliziertes Feld, aber es ist höchste Zeit für ein faireres System und auch für eine bessere Filterung der Songs, die auf den Diensten erscheinen.“ Rund zwei Drittel ihres Umsatzes zahlen Streamingdienste an die Rechteinhaber der Stücke auf ihren Plattformen. Dazu kommen mit der Masse an Werken stetig steigende Hosting-Kosten. Es liegt also auf der Hand, warum Folgueira hier vorprescht.

Ins Bild passt es obendrein: Deezer versuchte schon unter Albrecht, sich als Vorreiter in Systemfragen zu profilieren, konkret als Verfechter der nutzerzentrierten Abrechnung. Unter diesem System verteilten sich die Gelder eines Nutzers nur noch auf die gehörten Songs. Mit dem aktuell von allen großen Diensten Genutzten fließt alles in einen Topf und wird je nach Land und Zeitraum nach Marktanteilen auf die Songs ausgeschüttet. Viele Probleme würden mit dem nutzerzentrierten Ansatz abgemildert, sagt er. „Zusätzlich ist ein Artist-Centric-Modell denkbar, in dem nicht alle Tracks gleich behandelt werden bei der Abrechnung.“ Die Arbeit geht Folgueira so schnell wohl nicht aus.