Dax-Unternehmen: Das eklatante Kompetenz-Defizit von Deutschlands Aufsichtsräten – WELT
Künstliche Intelligenz hält zunehmend Einzug in Deutschlands Unternehmen. Doch eine Umfrage deutet darauf hin, dass ausgerechnet in den Aufsichtsräten eine bemerkenswerte Inkompetenz bei dem Zukunftsthema herrscht – selbst in Dax-Konzernen. Experten fordern ein Umdenken.
In den Augen von Satya Nadella gibt künstliche Intelligenz der menschlichen eine neue Richtung. „Wir Menschen sollten die richtigen Prompts definieren, also nicht so sehr versuchen, die richtigen Antworten zu kennen, sondern die richtigen Fragen zu stellen.“ So hat es der Chef von Microsoft im Gespräch mit WELT beschrieben.
Mit den richtigen Fragen allerdings dürften so manche Aufsichtsräte in Deutschlands Konzernen ihre Probleme haben – speziell, wenn es um das Thema künstliche Intelligenz geht.
Die Vorstände der Unternehmen jedenfalls trauen ihren eigenen Aufsichtsräten auf dem Gebiet wenig zu. Einer aktuellen Studie der Personalberatung Kienbaum zufolge hielten nur fünf Prozent der Vorstände ihren Aufsichtsrat für „ausreichend kompetent“ beim Thema KI.
Etwas selbstbewusster waren da schon die Aufsichtsräte selbst, von denen 27 Prozent ihrem Gremium KI-Kompetenz attestierten. Befragt hatte Kienbaum im Sommer 60 Vorstände und 60 Aufsichtsräte aus mehr als 100 Familienunternehmen und börsennotierten Unternehmen in Deutschland.
Eine Auswertung des European Center for Board Effectiveness (ECBE) offenbart Nachholbedarf in fast allen Unternehmen der Dax-Familie. Das Thema künstliche Intelligenz wurde demnach überhaupt nur von drei der 160 in Dax, M-Dax oder S-Dax notierten Unternehmen als eigene Kompetenz ihrer Aufsichtsräte in den Qualifikationsmatrizen abgefragt.
„Viele Unternehmen befinden sich beim Thema KI noch im Dornröschenschlaf“, urteilt Sascha Gerland. Der Partner der Personalberatung Board Xperts, die sich auf die Besetzung von Aufsichts- und Beiräten spezialisiert hat, sieht „riesigen Bedarf an kompetenten Köpfen“ – und nur wenige „echte Experten“ auf dem Markt. „In den Aufsichtsräten muss es zumindest Sparringspartner für die Geschäftsführungen geben, die sich für die Themen interessieren und darin einarbeiten“, so Gerland.
„Tradierte Machtstrukturen hinter uns lassen“
Wie aber sollen Aufseher auf Augenhöhe mit ihrem Vorstand diskutieren, wenn ihnen rudimentäre Kenntnisse fehlen? Und wie lässt sich die Diskussion des Querschnittsthemas KI – das ja viele Abteilungen im Unternehmen und unterschiedliche Ausschüsse des Aufsichtsgremiums betrifft – sinnvoll organisieren?
Für Kienbaum-Partner Sebastian Pacher ist es Zeit für eine kleine Revolution. „Wir müssen tradierte Machtstrukturen in den Aufsichtsräten hinter uns lassen“, fordert er. In Deutschland seien die Gremien bis heute häufig von wenigen starken Köpfen dominiert: dem Aufsichtsratsvorsitzenden und den Vorsitzenden wichtiger Ausschüsse wie dem Prüfungsausschuss. „In solch einer starren Struktur können Expertinnen und Experten, selbst wenn man sie ins Gremium holt, gar keine Wirksamkeit entfalten.“
Es geht also darum, über Querschnittsthemen, wie es die KI eines ist, überhaupt ins Gespräch zu kommen. „Der Aufsichtsrat muss sicherstellen, dass das Thema KI ausreichend in der Strategiediskussion verankert ist“, sagt die Multiaufsichtsrätin Daniela Mattheus (Commerzbank, Deutsche Bahn, Jenoptik). In einem gemeinsamen Artikel mit der Anwältin Anahita Thoms von Baker McKenzie empfiehlt sie die Gründung von Strategie- oder Innovationskomitees, die sich „gezielt mit dem Einfluss von KI auf die Unternehmensstrategie und das Geschäftsmodell befassen“.
Noch allerdings scheint es mit der Befassung nicht allzu weit her. Eine Umfrage des Aufsichtsratsnetzwerks Financial Experts Association (FEA) unter mehr als 80 Mitgliedern ergab, dass sich die Mehrheit ihrer Gremien entweder gar nicht oder nur unregelmäßig überhaupt mit dem Thema KI beschäftigt.
Weiterbildungen und Expertengespräche ratsam
Das könnte auch an fehlender Kompetenz in den eigenen Reihen liegen. Diese sollte nach Ansicht von Katharina Zweig allerdings niemanden entmutigen. Die Informatik-Professorin an der RPTU (Rheinland-Pfälzische Technische Universität) in Kaiserslautern und passionierte KI-Erklärerin rät, gezielt externe Expertinnen und Experten einzuladen. „Wir bieten solche Gespräche an, das wird gerne angenommen“, berichtet sie.
Darüber hinaus seien Weiterbildungen nötig. „Jeder kann sich so weiterbilden, dass zumindest eine erste Einschätzung möglich ist, ob ein KI-System wirklich das liefern kann, was versprochen wird. Danach müssen, wie bei allen Hochtechnologien, Experten und Expertinnen ran“, sagt die Forscherin.
Hendrik Schmidt fordert solche Weiterbildungen im Namen von Anlegern zunehmend ein. „Es ist eine Grunderwartung von uns, dass sich jeder Aufsichtsrat immer weiter qualifiziert“, sagt der Corporate Governance Experte der Fondstochter der Deutschen Bank, DWS. Das Ziel ganz im Sinne von Satya Nadella: Die richtigen Fragen stellen.
„Ein Aufsichtsrat muss nicht alle Antworten kennen“, sagt Schmidt. „Aber er muss die richtigen Fragen stellen und mit Fragen herausfordern, moderieren und – falls angezeigt – auch führen können, um die Qualität von Entscheidungen in Unternehmen zu verbessern.“ Dass das auch beim Thema KI gelingen wird, darüber macht sich Schmidt „mittelfristig keine Sorgen“. „In den Unternehmen, mit denen ich spreche, rangiert KI unter den Top 3 der wichtigsten Themen. Das Bewusstsein ist also da.“
Vanda Rothacker, Portfolio-Managerin und Corporate Governance Expertin bei der Union Investment, ist da schon skeptischer. „KI-Experten für den Aufsichtsrat sind Mangelware. Aber sie werden dringender denn je gebraucht“, sagt sie. Für Investoren sei es wichtig, dass KI-Expertise „glaubhaft belegt werden kann“. Mit anderen Worten: Ein selbst gesetztes Häkchen in der Qualifikationsmatrix, die die meisten Unternehmen inzwischen für ihre Aufsichtsräte veröffentlichen, reicht nicht.
Auch beim „verantwortungsvollen Umgang mit KI“ gebe es noch Luft nach oben, wie eine Unternehmensbefragung der Union Investment ergeben habe. „Es zeigt sich, dass der überwiegende Teil der Unternehmen noch in einer Selbstfindungsphase und am Anfang des verantwortungsvollen Umgangs mit KI steckt“, so Rothacker. Sie will dranbleiben am Thema und kündigt weitere Befragungen im Jahresrhythmus an.
Personalberater Gerland rechnet derweil damit, dass ein Verständnis für Digitalisierung und KI schon bald für jeden Aufsichtsrat elementar sein wird. „Wir debattieren ja auch nicht mehr darüber, ob Aufsichtsräte fließend Englisch sprechen müssen. Das ist heute selbstverständlich.“
Inga Michler ist Wirtschaftsreporterin bei WELT und moderiert große Wirtschaftskongresse. Die promovierte Volkswirtin berichtet über ökonomische Transformation, künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit, Familienunternehmen, Philanthropie und Leadership.
Source: welt.de