David Garrett: „Diese Geigen müssen vor uns Musikern regelrecht geschützt werden“
David Garretts neues Album „Millennium Symphony“ versammelt 25 Welthits, die seit dem Jahr 2000 erschienen sind und die Garrett nun neu arrangiert und eingespielt hat. Die Songs sind unter anderem von Taylor Swift, Harry Styles, Ed Sheeran und The White Stripes. Kommendes Jahr geht Garrett damit auf Tour, der Auftakt ist am 20. März 2025 in München. Beim Interview mit Garrett in der Deutschlandzentrale der Plattenfirma Universal liegt auf einem Tisch unscheinbar ein Geigenkoffer. Dessen Inhalt wird im Laufe des Gesprächs noch wichtig werden.
ZEIT ONLINE: David Garrett, komischerweise reden Journalisten
selten mit Ihnen über das Instrument, mit dem Sie Ihr Leben verbringen. Lassen
Sie uns das ändern: Was bedeutet eine Geige für Sie, was macht eine Geige zu
einer guten Geige, und was macht eine gute Geige zu einer außergewöhnlichen, zu
einer, für die Millionen Euro bei Auktionen ausgegeben werden und die man als
Geiger vermutlich unbedingt spielen will?
David Garrett: Da bin ich in meinem Element! Ich komme gerade von
einem Event, das ich organisiere: das Jahrestreffen des Guarneri-del-Gesù-Clubs, den ich selbst ins Leben gerufen habe. Davor, das ist drei
Jahre her, es war noch Pandemie und ich hatte wie viele Künstler unfreiwillig
viel Zeit, habe ich mir vorgenommen, eine vollständige Liste aller noch
existierenden Geigen von del Gesù
zu erstellen und sie auf einer Website frei zugänglich zu machen. Ich bin auf
etwa 170, 175 Geigen und Celli gekommen, von denen es Fotos gibt. Etwa zehn
weitere existieren, von denen es keine Abbildungen gibt. Guarneri del Gesù ist das perfekte Pendant zum berühmteren Antonio Stradivari: Beide haben
zur selben Zeit in derselben Stadt, nämlich in Cremona,
als Geigenbauer gearbeitet, del Gesù
nur etwas später. Er war erheblich jünger als Stradivari, der Mitte des 17.
Jahrhunderts geboren wurde, del Gesù
kam erst Ende des 17. Jahrhunderts zur Welt. Del Gesù hat die Geige auf seine Art neu
interpretiert und war vielleicht auch etwas kreativer dabei, in der kurzen Zeit, in der er gelebt hat. Für mich
hat er die faszinierendsten Geigen gebaut.
ZEIT ONLINE: Was macht die so faszinierend?
Garrett: Nicht dass man mich missversteht, ich bin natürlich auch
ein großer Fan von Stradivari. Um mit dem Äußeren zu beginnen: Stradivaris Geigen haben ein relativ
einheitliches Gesicht, damit meine ich die Vorderseite, die Decke mit den
F-Löchern. Del Gesùs Geigen
hingegen haben die interessanteren Gesichter, das sind regelrecht groteske
Fratzen mitunter, fast wie auf einem Gemälde von Goya. Das gilt insbesondere
für die späten Modelle von del Gesù,
etwa ab 1740 bis zu seinem Tod 1744.
Das sind abstrakte Geigen, die zu den besten, teuersten und tonlich
umwerfendsten gehören.
ZEIT ONLINE: Warum sind Guarneris derart gut?
Garrett: Da fallen einige Dinge zusammen. Die erwähnte Zeit und
der Ort: In Cremona waren
Mitte des 18. Jahrhunderts die Menge an Talent und der Konkurrenzdruck geradezu
absurd hoch. Carlo Bergonzi,
Antonio Stradivari, dessen Söhne Omobono und Francesco, Nicola Amati und Francesco Ruggeri kurz davor, die Guarneri-Familie selbst mit Guarneri del Gesù als letztem
Vertreter des goldenen Zeitalters der Cremoneser Schule – das sind alles Leute,
die in derselben Ortschaft gelebt haben und durch deren Konkurrenz etwas ganz
Eigenständiges, Besonderes, Hochkarätige entstanden ist. Guarneris sind mittlerweile teurer als
Stradivaris. Teilweise ist das der Tatsache geschuldet, dass es weniger davon
gibt. Bei Stradivari rechnet man mit 1.200 bis 1.500 Instrumenten, die noch existieren,
gegenüber den 180, 185 Guarneris.
ZEIT ONLINE: Angebot und Nachfrage stehen bei derlei Instrumenten
ohnehin in keinem Verhältnis?
Garrett: In gar keinem, richtig. Ein weiterer Faktor ist die
Konstruktion: Guarneri hat ein ganz anderes Modell als Stradivari gebaut. Man
könnte meinen, Guarneri hätte
sich aus Vernunftgründen doch dem Erfolg eines Kollegen wie eben Stradivari
anpassen müssen. Guarneri
jedoch ist genau den anderen Weg gegangen. Er hat versucht, sein eigenes
Modell, sein eigenes Gesicht, seine eigene Form, die eigene, dickere
Bodenstärke und die Stärke der eigenen Decke durchzusetzen.
ZEIT ONLINE: Wie genau unterscheidet sich der Klang einer Guarneri von der einer Stradivari?
Garrett: Zunächst einmal können Stradivaris vom Sound her nahezu identisch sein. Du kannst mir die
Augen verbinden, mir eine Stradivari in die Hand geben, und ich weiß beim
Spielen sofort, dass es eine Stradivari ist. Das ist ein warmer Sound, der
allerdings auch sehr viel Raum hat. Eine Guarneri hingegen klingt wie ein Laser. Der Sound einer Guarneri klingt nach „ssss“, der
einer Stradivari hingegen eher nach „mmmm“. Ich kann es nicht besser erklären.
Jede Guarneri klingt anders,
auch weil die F-Löcher anders gestaltet sind. Die bestimmen auch, wie die
Stimmlage ist, die Stimmfarbe.
ZEIT ONLINE: Spielen sich Stradivaris und Guarneris auch
unterschiedlich?
Garrett: Während du bei einer Stradivari kneten und arbeiten
musst, musst du bei einer Guarneri
eigentlich nur den Bogen auf die Saiten fallen lassen – und du hast Sound. Das
ist auch bestimmt ein Grund, warum viele Geiger, wenn sie älter geworden sind,
einmal gesagt haben: Was quäle ich mich so mit einer Stradivari, wenn ich es
auch einfacher haben kann mit einer Guarneri?
ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielt das Holz?
Garrett: Das ist nicht das Wichtigste, aber ja, es spielt eine
Rolle. Das Holz der Cremoneser Geigen des goldenen Zeitalters, das lässt sich
heutzutage mit den Mitteln der sogenannten Dendrochronologie nachweisen,
verfügt über eine besonders hohe Dichte. Die kam durch die klimatischen
Bedingungen zustande, unter denen die damals dafür gefällten Bäume in den Südalpen gewachsen sind: Durch die Temperaturen der kleinen Eiszeit im 17.
Jahrhundert waren die Jahresringe besonders eng. Diese Dichte bekommt man heute
gar nicht mehr hergestellt.
David Garretts neues Album „Millennium Symphony“ versammelt 25 Welthits, die seit dem Jahr 2000 erschienen sind und die Garrett nun neu arrangiert und eingespielt hat. Die Songs sind unter anderem von Taylor Swift, Harry Styles, Ed Sheeran und The White Stripes. Kommendes Jahr geht Garrett damit auf Tour, der Auftakt ist am 20. März 2025 in München. Beim Interview mit Garrett in der Deutschlandzentrale der Plattenfirma Universal liegt auf einem Tisch unscheinbar ein Geigenkoffer. Dessen Inhalt wird im Laufe des Gesprächs noch wichtig werden.