Das Haus, dies fünfmal die Nationalität wechselte

Die Aachener Stadtverwaltung untersagte Dagmar Heusch, ihr altes Bauernhaus zu nutzen, weil sie dafür keine Baugenehmigung vorweisen konnte. Vor Gericht bekam die Eigentümerin Recht. Denn die deutsch-belgische Grenzgeschichte steckt voller Kuriositäten und Überraschungen.

Im Moment sei es nicht ratsam, den Garten zu betreten, sagt Dagmar Heusch. Es sind dort zu viele Wespen unterwegs. Ihre Nester haben diese strategisch geschickt um den Birnbaum platziert, der hinterm Haus steht. Und nun nagen sie an den Früchten herum, die zu Tausenden überreif zu Boden fallen. Heusch wagt sich trotzdem vor, vorsichtig setzt sie Schritt für Schritt ins Gras. Auch sie kann den Birnen nicht widerstehen. „Münsterbirnen“, sagt sie, eine alte und besonders leckere Sorte sei das, die vor allem in der Region Aachen vorkomme und von der es nur noch ein paar Hundert Bäume gebe. Wenn überhaupt.

Wie der Birnbaum so ist auch Heuschs Haus ein selten gewordenes Exemplar, ein Bauernhaus, das vor rund 160 Jahren so gebaut wurde, wie es damals für diese Gegend typisch war: ein gedrungener, gekalkter Ziegelsteinbau mit kleinen quadratischen Fenstern. An der Frontseite hat die Außenwand einen Buckel bekommen, manche sagen, der habe sich bei einem Bombenangriff gebildet, andere glauben, ein Erdbeben sei die Ursache. Zur Gartenseite hin sind Mauerwerk und Dach verlängert. Dort war einst der Kuhstall untergebracht. In diesem Haus, das unmittelbar auf der deutsch-belgischen Grenze steht, ist Dagmar Heusch aufgewachsen. Auch ihre drei Kinder sind hier groß geworden und haben die Birnen vom Baum geholt.

Vor zehn Jahren zog Heusch aus, seit anderthalb Jahren steht das Haus leer. Sie wollte es verkaufen. Und damit beginnt ein abstruser Streit mit der Bauaufsicht der Stadt Aachen, wo man der Meinung war, dass es dieses Haus offiziell nicht gebe – oder jedenfalls nicht geben dürfe, denn es liege keine Baugenehmigung vor. Das Amt untersagte der Eigentümerin, das Haus weiterhin zu nutzen. Dagegen klagte Dagmar Heusch. Am 8. September wurde der Fall vor dem Verwaltungsgericht Aachen verhandelt.

Gerichtliche Auseinandersetzungen um illegale Schwarzbauten, also Häuser, die ohne Genehmigung errichtet wurden, gibt es immer wieder. Im Bergischen Land bei Köln sorgt seit einiger Zeit der tragische Fall einer hochbetagten Frau für Schlagzeilen, die in einem solchen Haus lebt – und nun nicht mehr auf die Straße gehen kann, weil der Nachbar kurzerhand den ebenfalls nicht genehmigten Zuweg zum Haus abgeriegelt hat. Gericht und Verwaltung sehen sich außerstande, etwas dagegen zu unternehmen – eben weil ohne behördliche Erlaubnis gebaut wurde.

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Beim Haus von Dagmar Heusch liegt die Sache allerdings anders. Sie ist fest davon überzeugt, dass es eine Genehmigung für den Hausbau gegeben haben muss. Um ihren Fall zu erklären, führt Heusch den Besucher vom Garten zurück auf die Straße. Auf Heuschs Seite gehört die Straße zu Aachen, Stadtteil Bildchen. Die Häuser gegenüber, auf der anderen Straßenseite stehen auf belgischem Boden, Gemeinde Kelmis, Ortsteil Hergenrath.

Für die heute 67-Jährige ist diese kuriose Grenze in der Straßenmitte selbstverständlich. Schon als Kind, lange bevor es das Schengen-Abkommen gab, konnte sie unbehelligt nach Belgien hinüberspazieren, doch ein paar hundert Meter die Straße hinunter stand ein deutsches Zollhäuschen. Höchst seltsam auch der weitere Grenzverlauf: Wie ein schmaler, spitz zulaufender Streifen ragt das Dorf Bildchen in belgisches Gebiet hinein, bis heute sind seine Bewohner von belgischer Grenze geradezu umzingelt. Heusch wusste aus den Erzählungen der Alten im Dorf auch einiges über die wechselhafte Geschichte dieser Grenze. War in dieser Historie möglicherweise der Grund dafür zu suchen, dass im Bauamt der Stadt Aachen keine Unterlagen vorhanden waren für das Haus, das ihre Großeltern 1958 gekauft hatten?

Als auf dem Wiener Kongress zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Länder Europas neu geordnet wurden, schlug man die hinter Aachen liegenden Gebiete um Eupen und St. Vith den Preußen zu, später gehörten sie zum Deutschen Reich. Das änderte sich allerdings nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Versailler Vertrag. Fortan war die Region belgisch. Das gilt im Grunde bis heute – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung während der Kriegsjahre, als Adolf Hitler die ostbelgischen Gebiete wieder dem Deutschen Reich einverleibte.

Das klingt schon verworren genug – und doch ist es nur ein sehr grobes historisches Raster. In Wahrheit ist die Geschichte vieler Gemeinden und Städte in dieser Grenzregion weitaus komplizierter. Oft erzählt wird das Kuriosum von Neutral-Moresnet, einem Territorium, das wegen seiner Bodenschätze von 1816 bis 1919 außerhalb aller Staatsgrenzen lag. Preußen, Niederländer und Belgier sicherten sich mit diesem Neutral-Gebiet den Zugriff auf die dortigen Vorkommen von Galmei, das man zur Zinkproduktion brauchte. In der Folge wurde Neutral-Moresnet zu einer Art Wilder Westen Europas, einem Ort der Glücksritter und Gesetzlosen. Wie und ob man dort Baugenehmigungen erteilte? Niemand weiß es.

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Das Dorf Bildchen, in dem das Haus von Dagmar Heusch steht, ist nur wenige Kilometer vom früheren Neutral-Moresnet entfernt. Und doch liegt hier der Fall wieder anders. Als Heusch im Internet nach historischen Details fahndete, stieß sie auf Aufsätze von Herbert Ruland. Also rief sie ihn an und bat ihn um Hilfe. „Ohne ihn“, sagt sie, „wäre ich verloren gewesen.“

Ruland ist jener Typ Wissenschaftler, dem man bei jedem Satz das Vergnügen an seiner Arbeit anhört. Der promovierte Politologe, der einen deutschen und einen belgischen Pass besitzt, hat die Erforschung der deutsch-belgischen Grenze zu seiner Lebensaufgabe gemacht. Das Dorf Bildchen ist für ihn so etwas wie das Sahnehäubchen auf einer Torte voller Skurrilitäten. Bildchen, sagt er, sei gewissermaßen ein Spezialfall innerhalb des Spezialfalls. 

Auch dieses Dorf wurde nach dem Ersten Weltkrieg zunächst als Teil der Gemeinde Hergenrath Belgien zugeschlagen. Wenige Jahre später aber, im Zuge von Grenzkorrekturen, kam Bildchen wieder zu Deutschland. Der Hintergrund: Das Deutsche Reich wollte dort, an der transnationalen Eisenbahnstrecke von Köln nach Paris, die an Bildchen vorbeiführt, einen Bahnhof bauen – gewissermaßen als Ausgleich, weil den Belgiern der wichtige, etwas weiter südlich gelegene Bahnhof Herbesthal zugesprochen worden war. So komme es, erklärt Ruland, dass ein schmaler 200-Hektar-Streifen Land, der von den wenigen Dutzend Häusern des Dorfs Bildchen bis zur Bahntrasse reichte, deutsch geblieben sei: „Weil hier der schönste Bahnhof Deutschlands entstehen sollte.“ Doch gebaut wurde er nie. Stattdessen gibt es dort bis heute Natur. Es sind die Obstwiesen und Pferdeweiden, die sich hinter dem Haus von Dagmar Heusch erstrecken. 

Die wechselhafte Geschichte von Bildchen ist damit nicht zu Ende. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten die Belgier ihre Grenze nach Osten zu verschieben, 1949 kassierten sie 1350 Hektar, die zuvor auf deutscher Seite lagen, und stellten sie unter das Kommando des Generalmajors Paul Bolle. Der Volksmund fand schnell einen Namen für dieses skurrile Annexionsgebiet: Bollenien. Bildchen, das 380-Seelen-Dorf, sei so etwas wie die Hauptstadt Bolleniens gewesen, sagt Ruland. Erst Mitte der 50er-Jahre war Schluss mit dem ewigen Hin und Her, 1958 trat der deutsch-belgische Grenzvertrag in Kraft, Bildchen kam nach Aachen – und damit auch das Haus, das in jener Zeit Dagmar Heuschs Großeltern kauften.

Ruland kennt diesen Vertrag genau. „Darin wurde auch geregelt, dass sämtliche Unterlagen, die diese Gebiete betrafen, den deutschen Behörden zu übergeben waren.“ Er geht davon aus, dass Pläne und Genehmigungen einzelner Gebäude entweder beim fünfmaligen Hin und Her zwischen Deutschland und Belgien verloren gingen – „oder aber nach Rückgabe der Akten im Aachener Rathaus verschusselt wurden“. Geblieben ist von jenen Grenzverträgen eine weitere Merkwürdigkeit, die derzeit Ärger bereitet: Wenige Hundert Meter von Dagmar Heuschs Haus führt ein Bahnübergang über die Strecke, auf der ICE und Eurostars durchrauschen. Wer hinüber will, muss an einer Sprechanlage klingeln. Daraufhin meldet sich ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn und öffnet die Schranke. Die Bahn würde diesen aufwendigen Übergang gerne schließen. Das Problem: Der Bahnübergang ist zugleich ein Grenzübergang. Und der sei in einem „völkerrechtlich verbindlichen Vertrag“ festgeschrieben worden, sagt der Bürgermeister von Kelmis. Nun ist das Innenministerium mit der Angelegenheit betraut worden.

Im Fall von Dagmar Heuschs Häuschen reichte es, dass die Richterin des Aachener Verwaltungsgerichts sich in die wechselvolle Geschichte der Grenzgebiete eingelesen hatte. In der Verhandlung am vergangenen Montag wollte sie vom Leiter der Aachener Bauaufsicht und der städtischen Justiziarin wissen, ob ihnen die Hintergründe bekannt seien. Die Antwort: zaghaftes Kopfschütteln. Auch fragte die Richterin, warum nur Dagmar Heusch mit einer Nutzungsuntersagung bedacht worden sei, es gebe doch noch andere Häuser in diesem Dorf mit einer ähnlich ungeklärten Baugeschichte. Antwort des Bauaufsehers: Man habe erst einmal das Urteil in diesem Fall abwarten wollen.

Das steht nun fest: Eine Nutzungsuntersagung wegen einer fehlenden Baugenehmigung aus dem 19. Jahrhundert, so die Richterin, sei angesichts der historischen Umstände nicht angemessen. Der Klägerin Dagmar Heusch empfahl sie, eine Bauvoranfrage zu stellen, um zu klären, ob und wie ein potenzieller Käufer das baufällige Haus verändern dürfe. Der Leiter der Bauaufsicht, der mit seiner Anordnung den Verkauf ohnehin schon monatelang blockiert hat, versprach schnelle Prüfung. Allerdings ging die Einsicht der städtischen Vertreter, dass sie mit ihrem Beharren auf eine Baugenehmigung offenbar übers Ziel hinausgeschossen hatten, nicht tief genug, um sich bereitzuerklären, die Prozesskosten zu übernehmen. Man wolle halbe-halbe machen, so die Justiziarin der Stadt. Darüber muss das Gericht noch entscheiden.

Eines scheint bereits klar zu sein: Weil das Haus im Landschaftsschutzgebiet liegt, kommt wohl nur ein Umbau infrage. Der Baum im Garten hat also gute Chancen, stehenzubleiben. Mensch und Wespe dürfen weiterhin auf leckere Münsterbirnen hoffen.

afa

Source: welt.de