„Das All im eignen Fell“ von Clemens J. Setz: es ist herbts / uff dem feld / DIE KÜRBEN
Wie dumm wir waren. Und mit der ersten Person Plural meint man natürlich vor allem die erste Person Singular. Und mit „man“ sowieso. Wie dumm wir also waren, die wir jahrelang nur widerwillig auf Twitter rumlungerten. Denn natürlich hatten wir, anders als die meisten Deutschen, einen Account beim Kurznachrichtendienst. Wir nutzten ihn dazu, jedem, der es lesen wollte – Journalisten waren auf Twitter immer überrepräsentiert –, zu erklären, wie grauenhaft die Höllenplattform ist.
Twitter, so wussten wir, war der Ort, an den die Habermas’sche Öffentlichkeit zum Sterben geht. An dem man seine 140 Zeichen raushaut und Andersdenkende wegblockt. Der Ort, an dem jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird.
Wo ein falsches Wort mehr wog als 70 Jahre Lebensleistung. Wo man lernte, dass man Texte am besten verreißt, wenn man sie vorher gar nicht erst liest.
2019 verließ Robert Habeck die Plattform mit den Worten „Ich bin von mir selber entsetzt“. Jahre später waren wir immer noch da. Twitter war der Ort, an dem wir von uns selbst entsetzt waren. Warum wir blieben, das konnten wir irgendwann nicht mehr beschönigen. Wahrscheinlich brauchten wir die Empörten, um uns über sie zu empören. Waren süchtig danach, die Selbstgerechten zu verurteilen. Thomas von Aquin mag gedacht haben, dass es eine der Freuden der Heiligen sei, die Qualen der Verdammten zu beobachten – der war aber auch nie auf Twitter. Irgendwann ahnten wir: Wer täglich, manchmal mehrmals die Stunde, die Verdammten belächelt, ist wohl zu Recht in der Hölle. Twitter, so mussten wir uns eingestehen, war der Ort, den wir bewohnten, weil wir sehr schlechte Menschen waren.
Vielleicht, und diese radikale These verdanken wir dem Büchner-Preisträger und Twitter-Bewohner Clemens Setz, waren wir aber auch aus einem ganz anderen Grund auf Twitter: Vielleicht waren wir auf Twitter, weil es schön war. Weil Twitter uns tatsächlich, neben den Streicheleinheiten fürs schlechteste Selbst, etwas gab, was man sonst fast nirgends bekommt. Etwas Blitzschnelles, enorm Komisches, Absurdes, Abgedrehtes, Banales, etwas Anarchisches, etwas, das dem Alltag mit all seinen Unzumutbarkeiten einen neuen Anstrich gab, etwas, das erwachsenen Menschen die kindliche Freude schenkt, sich noch mal ganz von vorne über die Welt zu wundern. Clemens Setz nennt es Dichtung.
In der Gedicht- und Essay-Sammlung Das All im eignen Fell. Eine kurze Geschichte der Twitterpoesie hat Setz dieser Dichtung – sowohl der eigenen als auch der ausgesuchter anderer Twitter-Dichter – ein Mausoleum gebaut. Denn Twitter gibt es nicht mehr. 2022 erwarb der reichste Spielverderber der Welt die Plattform für 44 Milliarden Dollar. Elon Musk hob das Zeichenlimit auf – und damit den Twitter-eigenen Verdichtungsdruck. Dann benannte er die Plattform in X um. Vor allem aber schaffte der selbsterklärte Dark MAGA (sprich: Trump-Fan) es, die Plattform von den wortwitzigen (linken) Zeitverschwendern zu befreien, die einst ihren Wert generierten. Jetzt „bevölkern“ Sex-Bots und ein paar unlustige Rechte die Plattform. Seitdem verschwinden die Accounts, und mit ihnen ihre Dichtung. Eine der Regeln des neuen Inhabers, erklärt Setz, ist es, alles zu löschen, was nicht mehr aktiv ist. Und diese Löschungen sind, so stellt es Setz immer wieder fest, permanent – „keine politische Macht der Erde, kein Geldbetrag, keine kryptografische Meisterleistung“ wird sie jemals zurückbringen.
Was Setz leistet, ist also zweierlei: Zum einen konserviert er Reste eines sich genau jetzt in Auslöschung befindenden Dichtungsschatzes. Zum anderen, und vielleicht viel Entscheidenderen, stellt er überhaupt erst mal fest, dass das, was da auf Twitter entstand, wirklich Dichtung war, täglich gelesene, ständig geteilte, kommentierte, oft zitierte Dichtung, die tatsächlich einen literarischen Wert hatte. Einen Wert, der an jenen, deren Aufgabe es wäre, ihn festzustellen, größtenteils vorbeiging.
Wie dumm wir waren. Und mit der ersten Person Plural meint man natürlich vor allem die erste Person Singular. Und mit „man“ sowieso. Wie dumm wir also waren, die wir jahrelang nur widerwillig auf Twitter rumlungerten. Denn natürlich hatten wir, anders als die meisten Deutschen, einen Account beim Kurznachrichtendienst. Wir nutzten ihn dazu, jedem, der es lesen wollte – Journalisten waren auf Twitter immer überrepräsentiert –, zu erklären, wie grauenhaft die Höllenplattform ist.
Twitter, so wussten wir, war der Ort, an den die Habermas’sche Öffentlichkeit zum Sterben geht. An dem man seine 140 Zeichen raushaut und Andersdenkende wegblockt. Der Ort, an dem jeden Tag eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird.