„Dann nimmt man uns unsrige Kinder selbst“ – Die Rache von Amerikas Eltern

In den USA manifestiert sich ein Trend, den Trump befeuert: Immer mehr Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Gründe sind vielfältig: Geld, Sicherheit – aber auch die Angst vor unpassenden Lehrinhalten. Für die Homeschooling-Verfechter geht es um nichts weniger als um die Zukunft der Nation.

In Bethany Mandels Wohnzimmer ist ein Schatz versteckt. Vorsichtig zieht ihre älteste Tochter eine Sofaschublade auf. Darin lagert die Mutter Rechenschieber aus Holz und Plastik und anderes Lernspielzeug. „Die würden in einem normalen Klassenzimmer keine Woche überleben“, erklärt Mandel. An der Wand gegenüber ist ein Bildschirm angebracht. In bunten Farben leuchten Dutzende Termine von fünf ihrer sechs Kinder auf. Von Vera, Max, Irving, Charlotte und Sydney. Zwischen elf und drei Jahre sind sie alt. Das Baby braucht noch keinen Stundenplan.

Die 38-jährige Autorin ist eine von immer mehr Müttern in den USA, die ihre Kinder zu Hause unterrichten. Die Schulform boomt in dem Land, das im Gegensatz zu Deutschland keine Schulpflicht kennt. Seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich die Zahl der Kinder, die Heimunterricht erhalten, mindestens verdoppelt.

Waren es vor 2020 rund drei Prozent, sind es mittlerweile sechs, laut manchen Studien sogar neun Prozent der Schüler, deren Klassenraum das heimische Wohnzimmer ist. Bis zu fünf Millionen Kinder wachsen in den USA außerhalb der konventionellen Institution Schule heran.

Eine Entwicklung, die auch vom Misstrauen in den Staat zeugt. Ein Hauptgrund für das Homeschooling ist, dass Kindern in öffentlichen Schulen Lehrinhalte vermittelt werden, die nach Ansicht einiger Eltern nicht altersgemäß sind. Es ist ein Argument, das auch regelmäßig von Donald Trumps Republikanern bemüht wird.

Florida beispielsweise ist einer der Bundesstaaten, der Familien das Homeschooling nicht nur juristisch, sondern auch mit Steuererleichterungen vereinfacht. Der konservative Gouverneur Ron DeSantis geht gleichzeitig radikal gegen in seinen Augen zu progressive Lehrinhalte vor. Etwa mit einem Gesetz, das die Themen sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität aus dem Lehrplan öffentlicher Schulen verbannt.

Trump selbst ist der erste Präsident in der US-Geschichte, der Homeschooling in sein Programm für die Wahl im vergangenen November aufgenommen hat. Schon in seiner ersten Amtszeit sei es „eine Ehre gewesen, Amerikas Homeschool-Familien zu unterstützen und das von Gott gegebene Recht zu schützen, dass Eltern die Hüter der Erziehung ihrer Kinder sind“, bekundete er. Für den Fall seiner Wiederwahl versprach er einen Steuerfreibetrag für Schulmaterialien in Höhe von 10.000 US-Dollar pro Kind, das zu Hause unterrichtet wird. Nun kann der zehnfache Großvater aus dem Versprechen ein Gesetz machen.

Rebellion gegen Einmischung des Staates

Für Amerikas Konservative geht die Frage, welche Rechte Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder haben, weit über die Politik hinaus. „Es ist ein Kampf um die Zukunft unserer Nation“, sagt Vernadette Broyles im Gespräch mit WELT. Broyles ist Anwältin für Familienrecht und konservative Aktivistin. „Sind Kinder nur bloße Kreaturen des Staates? Oder gehören sie ihren Eltern? Wer entscheidet, was sie glauben? Wenn uns die Freiheit zu dieser Entscheidung genommen wird, dann nimmt man uns als Nächstes unsere Kinder selbst.“ Ein Orwellsches „1984“-Szenario, das im aufgeheizten gesellschaftlichen Klima der USA auf fruchtbaren Boden fällt.

Das konservative und religiöse Amerika rebelliert immer lauter gegen die progressiven Ideen, die unter Trumps Vorgänger Joe Biden und seiner Demokratischen Partei entstanden sind. Die von vielen Trump-Anhängern wahrgenommene Einmischung des Staates in die Ausbildung ihrer Kinder war eines der Themen, die im Wahlkampf 2024 große Emotionen ausgelöst hatten. Weil etwa demokratische Staaten wie Kalifornien Lehrer verpflichten, nicht nur die „ethnisch und kulturell diverse Gesellschaft“ zu thematisieren, sondern schon Grundschulkinder über die historische Rolle von Homosexuellen oder Transgender-Menschen aufzuklären. Nach dem 12. Lebensjahr steht das Thema „Gender Identity“, die Wahrnehmung des eigenen Geschlechts, verpflichtend auf dem Stundenplan.

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„Der Bildungssektor ist mittlerweile völlig politisiert, zum Teil, weil die Lehrergewerkschaften in der Demokratischen Partei aufgehen. Weil in lokalen Schulaufsichtsbehörden, die direkt von den Bürgern gewählt sind, oft Demokraten dominieren. Was wiederum den Republikanern Stoff für ihren Wahlkampf lieferte“, erklärt Paul Peterson, Professor für Bildungspolitik an der Harvard University, WELT.

1925 hatte der Supreme Court als Oberster Gerichtshof der Vereinigten Staaten in einer wegweisenden Entscheidung erstmals geurteilt, dass die Verfassung bürgerliche Freiheiten garantiert und damit Eltern das Recht gibt, „über die Erziehung und das Aufwachsen ihrer Kinder zu entscheiden“. Seither beschäftigt das Thema „parental rights“ (elterliche Rechte) die Verfassungsrichter immer wieder.

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Erst Anfang Dezember wies der Oberste Gerichtshof die Klage einer Gruppe Eltern aus Wisconsin ab. Diese wollten gegen ihre lokale Schulaufsicht vorgehen, weil sie Transgender-Schülern erlaubt hatte, ohne Einverständnis der Eltern ihre Pronomen zu ändern. Drei der neun höchsten Richter, alle in der ersten Amtszeit von Trump eingesetzt, wollten den Fall anhören. Er sei von „großer und wachsender Bedeutung“ für die USA. Dieses Mal unterlagen sie.

Bethany Mandels Motivation, ihre Kinder zu Hause lernen zu lassen, stimmen mit der Anschauung von Konservativen wie der Aktivistin Vernadette Broyle überein. Aber es gibt auch ganz profane Gründe – allen voran das Geld. Die staatliche Grundschule um die Ecke, die ihre Kinder besuchen müssten, schneidet bei den Lernresultaten miserabel ab. Die jüdische Privatschule, auf die die Mandels ihre Kinder gern schicken würden, kostet 20.000 Dollar – pro Jahr und Kind. Das können sich die Eltern für ihre sechs Kinder nicht leisten.

Gewaltausbrüche an öffentlichen Schulen

Ganz oben auf der Agenda von Eltern, die sich für Homeschooling entscheiden, steht indes das Thema Sicherheit. Schlägereien und Mobbing gehören vielerorts zum Alltag. Laut Recherchen der „New York Times“ verzeichneten Los Angeles’ öffentliche Schulen 2023 fast 4800 Gewaltausbrüche. Schüler provozieren Raufereien sogar gezielt, um sie mit Smartphones aufzunehmen und auf den sozialen Medien zu verbreiten.

Auch die Zahl der Amokläufe ist seit der Pandemie gestiegen. Seit 2021 gab es pro Jahr mehr als 50 Schießereien in Schulen mit mindestens einem Todesopfer. Zwar sterben weniger als ein Prozent minderjähriger Opfer durch Schussverletzungen in Schulen. Aber Hunderttausende Kinder werden direkte Zeugen dieses Horrors.

Das in Deutschland verbreitete Vorurteil, das Homeschooling-Kinder abgeschottet „ent-sozialisiert“ werden, ist derweil genau das: ein Vorurteil. Die allermeisten US-Schüler absolvieren eine Mischform aus Heimunterricht, Online-Lernen und Privatstunden außerhalb. Sie sind häufig Mitglieder von Sportclubs und nehmen an Sommercamps teil. Dass es Fälle gibt, in denen Kinder vernachlässigt und missbraucht werden, weil keine staatliche Aufsicht diese Kinder jemals sieht, leugnen Homeschooling-Verfechter nicht.

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Die große Mehrheit der Kinder absolviert zudem nur ein bis drei Jahre Homeschooling und kehrt dann in den konventionellen Unterricht zurück. Und weil amerikanische Universitäten Studenten auch auf Grundlage individueller Tests und Leistungsnachweise aufnehmen, bedeutet Homeschooling keine Hürde für ein Studium.

Trotzdem steht die Frage im Raum, ob eine Gesellschaft weiter zerfällt, wenn Kinder immer häufiger in „Blasen“ aufwachsen. Kevin Boden von der Home School Legal Defense Association, der größten Lobbygruppe der USA für diese Schulform, weist das Argument zurück. „Die USA sind ein christliches Land. Die Werte, die Eltern ihren Kindern vermitteln, sind die richtigen Werte. Nicht die, die ein progressiver Staat vorschreibt.“

Homeschooling ist für Boden darum Ausdruck der uramerikanischen Idee einer „power of voluntary association“: dass sich Gleichgesinnte zusammenfinden, um die durch die amerikanische Republik garantierte Freiheit so zu leben, wie sie möchten. Und damit zugleich ein Gegengewicht bilden zur Macht des Staates.

Stefanie Bolzen berichtet für WELT seit 2023 als US-Korrespondentin aus Washington, D.C. Zuvor war sie Korrespondentin in London und Brüssel.

Source: welt.de