Damian Boeselager: Als Newcomer kann man sich idealistische Träume erlauben

Wer in einer deutschen Großstadt wohnt und einen Teenager im wahlberechtigten Alter hat, der dürfte in den Tagen vor der EU-Wahl kaum an Volt vorbeigekommen sein. Auffällig häufig hatte die proeuropäische Kleinpartei in urbanen und besser verdienenden Quartieren ihre lilafarbenen Plakate aufgehängt. Fast wie ein Big Player. „Wählen rettet Leben“, „Power to the people“ und „Sei kein Arschloch“ stand darauf. Großmütter und Großväter sollte das wohl weniger ansprechen. Bei Jugendlichen aus sogenannten progressiven Elternhäusern aber dürfte Volt regelmäßig einen der vorderen Plätze im Wahlomaten belegt haben.

Und tatsächlich gelang dem Parteigründer und Spitzenkandidaten Damian Boeselager ein erstaunlicher Erfolg. Volt holte hierzulande 2,6 Prozent der Stimmen. Vor fünf Jahren waren es noch 0,7 Prozent. Mit einem Programm, das grüner als die Grünen und liberaler als die FDP ist, erreichte die Partei bei den unter 24-Jährigen fast so viele Menschen wie die SPD und zieht nun mit drei Abgeordneten ins Europaparlament ein.

Fast scheint es, als habe Volt die Ampel mit ihren eigenen Mitteln geschlagen. Gegensätze stoßen sich hier nicht ab, sondern sollen sich anziehen. „Mega“ sei das alles, sagt Boeselager. Mega-Ergebnis, Mega-Freude, Mega-Stolz.

„Plötzlich konnte ein Arschloch der mächtigste Mann der Welt werden“

So ungewöhnlich wie die programmatische Verschmelzung von FDP und Grünen in einer Partei ist auch der Hintergrund des Gründers. Der 36-Jährige ist von Haus aus Wirtschaftsphilosoph, nach dem Studium arbeitete er bei McKinsey. Damit verkörpert Boeselager zwei Disziplinen, die in den Augen von Friedrich Merz unvereinbare Gegensätze darstellen. Wenn der CDU-Oppositionsführer den Wirtschaftsminister Robert Habeck von den Grünen so richtig ärgern will, nennt er ihn abschätzig: Philosoph. Boeselager will das nicht kommentieren. Er selbst hat sich in seinem Studium mit der Frage der moralischen Verantwortung beschäftigt, „die sich durch die Möglichkeit ergibt, als Mensch Willen über seinen eigenen Willen zu entwickeln“. Kant, Hayek, Schumpeter, all das kennt er aus dem Effeff.

Später hat er dann, mittlerweile Student an der renommierten Columbia University in New York, den ersten Sieg von Donald Trump miterlebt. Eine Freundin nahm ihn im November 2016 mit in die Wahlkampfzentrale von Hillary Clinton. Zu Beginn des Wahlabends sei man dort siegessicher angekommen, am Morgen danach schockiert nach Hause getaumelt. Boeselagers Erkenntnis: „Plötzlich konnte ein Arschloch der mächtigste Mann der Welt werden.“ Und: Die Demokraten hätten sich selbst damals heillos überschätzt. An der Columbia hatte er noch in Vorträgen gehört, dass einer wie Trump niemals Präsident werden könne.

Vier Jahre später beim Brexit wiederholt sich diese Erfahrung. Der lange wie eine uneinnehmbare Festung wirkende demokratische Westen war erneut von Populisten besiegt worden. Boeselager, mit Fukuyamas Diktum vom Ende der Geschichte aufgewachsen, musste sich abermals revidieren. „Ich glaube heute fest daran, dass nichts von Dauer ist, sondern alle Regierungssysteme per se instabil sind.“ Das mag ihn von vielen älteren Demokraten unterscheiden. Und der sich durch die EU-Wahl manifestierende Rechtsruck scheint ihn zu bestätigen.

Boeselager, Spross einer adeligen Bankiersfamilie aus Frankfurt am Main, aber glaubt, dass man den wie ein bürokratisches Monster erscheinenden Staatenbund nur retten könne, wenn man ihn reformiert und quasi ausdehnt. Die Veto-Rechte der Mitgliedsstaaten will Volt abschaffen, stattdessen setzt man sich für ein EU-eigenes Verfassungsgericht ein, eine europäische Armee und eine eigene Außenministerin. Zudem soll die Energieversorgung in Europa bis 2035 klimaneutral werden und die gesamte Wirtschaft bis 2040. Mit diesen ambitionierten Zielen stoßen die Grünen gerade überall an ihre Grenzen. Volt profitiert davon. Als Newcomer kann man sich idealistische Träume erlauben.

Andererseits sieht Boeselager, der sich selbst als linksliberal bezeichnet, die milliardenschweren Subventionen der Ampel beispielsweise für die Intel-Ansiedlung in Magdeburg kritisch. So würde Deutschland im europäischen Binnenmarkt seine Macht als reiches Land ausnutzen und den Wettbewerb verzerren. Dass die Kritik innerhalb der EU an diesem Kurs noch so leise ausfällt, darüber kann sich Boeselager nur wundern. Auch glaubt der Volkswirt, dass der Staat nicht wissen könne, „wann in welchem Unternehmen jemand eine Innovation erfinden würde“. FDP-Chef Christian Lindner dürfte das gefallen.