Comic-Kolumne: Chris Ware stellt in Leipzig aus – und tritt sogar selbst hinaus
Über Comics zu schreiben, hat den Vorteil, dass mein Publikum nicht unter unmittelbarem Zeitdruck steht: Bücher verfallen nicht und sind meist lange erhältlich; sind sie vergriffen, können sie nachgedruckt werden, der antiquarische Handel funktioniert auch ganz gut. Wann einer mein Blogeinträge gelesen wird, ob unmittelbar nach Publikation oder erst Jahre später, ist somit im Regelfall egal. Heute nicht. Hier geht es einmal um etwas für Kurzentschlossene.
Nach Erscheinen dieses Blogeintrags gibt es nämlich nur noch an zwei Tagen die Möglichkeit, in Leipzig eine Sensation zu sehen: Am kommenden Samstag und Sonntag (8. und 9. März) öffnet jeweils nachmittags letztmals die lohnendste Comicausstellung, die in diesem Jahr in Deutschland gezeigt wird. Sie heißt „Chris Ware – Bilder lesen“, und wer diesen Titel wörtlich nimmt und tatsächlich die Bilder liest, die in Leipzig gezeigt werden, der wird gleich beide Tage brauchen. Es gibt da viel zu lesen.

Aber das muss man nicht so halten, denn man kann sich auch einfach überwältigen lassen gerade durch das schier überwältigende Mitteilungsbedürfnis von Chris Ware, das sich noch mehr als in Worten in seinen Zeichnungen artikuliert. Die er auf riesigen Blättern anfertigt, um die winzigen Details alle unterzubringen, mit denen er seine Geschichten ausstattet. Damit hat er Furore gemacht und die Lesegewohnheiten von Comics neu herausgefordert – mit alten Mitteln, denn ähnlich kleinteilig und seitenarchitektonisch gewagt hatten in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts manche Zeitungscomiczeichner erzählt: George Herriman, Winsor McCay oder der von Ware besonders geliebte Frank King. In dessen Comicstrip „Gasoline Alley“ spielte sich über Jahrzehnte hinweg eine einzige Familiengeschichte ab. Und dieses Genre ist auch die Domäne von Ware.
Mit diesem Autor kommt man in eine neue Welt der Comics
Der 1967 im US-Bundesstaat Nebraska geborene und heute in Chicago lebende Autor ist der moderne Meister des biographischen Erzählens; mit bislang nur drei Comicbüchern hat er sich einen festen Platz in der Geschichte seiner Kunstform gesichert: „Jimmy Corrigan (2000), „Building Stories“ (2012) und „Rusty Brown“ (2019). Jedes davon erfordert eine Aufmerksamkeit, die mit den komplexesten Herausforderungen literarischer Provenienz mithalten kann – wenn es einen Schriftsteller gibt, mit dem man Ware vergleichen könnte, dann wäre es James Joyce. Denn wie der irische Autor im Roman „Ulysses“ nutzt der amerikanische Zeichner die komplette Tradition seines Metiers und schafft aus den Motiven der Altmeister gegenwärtige Geschichten. Was Joyce die Odyssee war, sind Ware „Gasoline Alley“, „Krazy Kat“ oder „Superman“ – Ausgangspunkte von erzählerischen Expeditionen, die weit vom Üblichen entfernt in Bereiche vorstoßen, die nie ein Mensch vorher gesehen hat. Und zeichnerisch sowieso. Derzeit dürfte es keinen Comicautor geben, der einen ähnlichen Einfluss aufs Grafikdesign ausübt.

Denn Ware wiederholt nicht einfach, er entwickelt weiter. Seine Protagonisten (die Titelhelden das ersten und des dritten Buchs sowie das Haus, das der eigentliche Held seines zweiten Comicprojekts ist) sind zeitgenössische Figuren – auch in ihrer Ambivalenz. Keine Rede mehr von jenen Charakterschemata, mit denen der klassische Comicstrip arbeitete; bei Ware ist die Erzählung ebenso komplex wie das Leben. Und ebenso wenig über- wie durchschaubar: Die komplexe Gestaltung seiner Comics spiegelt es wider. In „Building Stories“ ist das auf den Höhepunkt getrieben; die Geschichte ist im Wortsinn verschachtelt: Vierzehn Comics unterschiedlichster Formate finden sich in einer Box, und alle drehen sich um ein altes Mietshaus in Chicago, in dem Ware früher selbst einmal gewohnt hat; die Zeichnung aus einem seiner Skizzenbücher, der man das entnehmen kann, liegt in Leipzig aus.
Niemals gab es so viel Ware zu sehen in Deutschland
Wenn es so viel zu bestaunen gibt (Entwürfe, Materialien, Modelle, Zeichnungen aus der Frühzeit bis zu solchen, die noch gar nicht erschienen sind), warum war dann diese Ausstellung nur so kurz zu sehen, nämlich nicht einmal vier Wochen lang, und in dieser Zeit regulär nur an den Wochenenden offen? Einmal, weil es sich bei dem Schauplatz, der Techne Sphere, um einen privaten Kunstort handelt. Und dann wurde die Präsentation überhaupt nur deshalb kurzfristig möglich, weil zwischen Ausstellungsstationen im niederländischen Haarlem und dem spanischen Barcelona noch etwas Zeit blieb. Debütiert hat die Schau vor drei Jahren im Pariser Centre Pompidou, zwischenzeitlich war sich auch schon mal im deutschen Sprachraum, nämlich im Cartoonmuseum von Basel, aber für Deutschland selbst ist es eine Premiere: Nie zuvor war hierzulande so viel Ware zu sehen. Und alle gezeigten Objekte stammen aus dem Besitz des Künstlers.

Wie er auch das Ausstellungsdesign selbst verantwortet. Ware bekam aus Leipzig 3D-Ansichten der Räumlichkeiten zugeschickt und gestaltete dann selbst den Look der Schau und das konkrete Arrangement. So hielt er es überall auf den Ausstellungsstationen, und da es sich um jeweils komplett andersartig geschnittene Örtlichkeiten handelt, sieht jede Ausstellung auch anders aus. In Leipzig etwa ist der hohen Räume wegen eine vertikalere Optik möglich. Aber an Leipzig begeisterte den Zeichner auch, dass der Schauplatz zu einem Industrieareal gehört: Die Kirow-Werke im Westen der Stadt haben sich nicht nur die Ausstellungsfläche gleich neben ihrem Haupteingang geleistet, sondern auch im selben Gebäudetrakt eine architektonische Besonderheit: Für die Werkskantine entwarf der brasilianische Stararchitekt Oscar Niemeyer einen kugelförmigen Aufbau – daraus resultierte der Name „Techne Sphere“ für die Ausstellungsräume, auch wenn die die Kugel gar nicht mit umfassen.
Was den Ausschlag für Leipzig gab
Die Umsetzung seiner Idee erlebte Niemeyer (der als überzeugter Kommunist zum Ansinnen, etwas Spektakuläres für Werktätige zu bauen, nicht Nein sagen konnte) nicht mehr, denn als er das Leipziger Projekt ausarbeitete, hatte er das hundertste Lebensjahr schon überschritten; erbaut wurde es dann postum. Dass dieses nicht nur deutschlandweit einmalige Bauwerk ein Anreiz für Chris Ware war, ist klar: Architektur spielt in seinen Comics eine große Rolle, einmal natürlich in Form von Seitenarchitektur, jedoch auch als konkretes Thema. Siehe „Building Stories“. Oder siehe die von ihm gestalteten Ausstellungsräume in der Techne Sphere.

Wie Niemeyer hat Ware nicht gesehen, was er sich für Leipzig ausdachte. Aber das ändert sich am kommenden Sonntag. Denn dann wird er zur Finissage anreisen, und ich habe das Glück, in deren Rahmen ein öffentliches Gespräch mit ihm zu führen. Drei Tage zuvor, am 6. März, werden wir schon einmal vor Publikum miteinander reden: im Literaturhaus Hamburg, ergänzt um die deutsche Comiczeichnerin Hannah Brinkmann, deren fulminanter Band „Zeit heilt keine Wunden“ kürzlich auch an dieser Stelle Thema gewesen ist. Wer es nicht nach Leipzig schafft, kann es also mit Hamburg versuchen. Aber dazu bleibt noch weniger Zeit.
Und die Ausstellung ist ja wichtiger als Chris Wares Auftritt. Er selbst jedenfalls würde das allemal so sagen: Dieser Autor macht sich rar, weil er mit seinen Arbeiten zu uns sprechen will, nicht über sie. Dass er trotzdem gleich zweimal dazu bereit ist, darf man als ungewöhnlich ansehen; zum letzten Mal war das in Deutschland vor zwölf Jahren der Fall, und auch damals war Leipzig eine der beiden Stationen – die legendäre, leider längst eingestellte alternative Comicmesse „Millionaires Club“ lockte ihn her.
Wichtig ist ihm das genaue Hinsehen
Vor fünf Jahren hätte er dann schon einmal im Hamburger Literaturhaus sein sollen; das aber verhinderte Corona. Nun holt er diesen Besuch nach, und dass es parallel dazu die Ausstellung gibt, mag ihm den Entschluss, sich endlich einmal wieder zu zeigen, leichter gemacht haben. Denn in Leipzig zumindest ist ja das aufgeboten, was Ware für zentral hält: die Comics. Auch wenn die über dieses Blog gestreuten Ausstellungsansichten zeigen, wie einfallsreich seine Gestaltung der Installationen ist, stehen sie doch alle im Dienst der zahlreich ausgestellten Originale, die allerdings zunächst in den so reich inszenierten Räumen gar nicht auffallen.

Aber wenn da auf der Rückwand einer großflächig bunt bedruckten Wand mit Vergrößerungen einzelner Ware-Bilder oder -Typographien eine eng gehängte Folge von gleich vierzig „Rusty Brown“-Seiten hängt (alle zur Figur Joanne Cole, einer schwarzen Lehrerin, die noch viel komplexer angelegt ist als Rusty Brown als Titelheld) oder am Rand eines meterhoch aufgeblasenen farbigen „New Yorker“-Titelbilds die federfeine Schwarz-Weiß-Originalzeichnung dazu angebracht ist (zusammen mit zwei anderen Cover-Vorlagen für die Zeitschrift), dann zeigt Ware, worauf es ihm immer ankommt: das ganz genaue Hinschauen. Wer ihm eine Freude machen will, liest also, was er in Leipzig zeigt. Aber wie gesagt: Um damit durchzukommen, müsste die Ausstellung wohl noch Monate geöffnet sein. Nehmen wir, was wir kriegen. Es wird in jedem Fall ein Gewinn sein.
Source: faz.net