Christian
Zum Auftakt der Woche wird Christian Lindner in Düsseldorf über das sprechen, was die Ampelkoalition bewegt: die „Wirtschaftswende Deutschland“. So ist seine Rede zum Freundschaftsmahl Sankt Martin der Bauindustrie Nordrhein-Westfalen überschrieben, die er Montag Abend laut Ankündigung halten wird. Überschattet wird der Auftritt von der Debatte über ein Ampel-Aus, die Lindner mit seinem am Freitag publik gewordenen Wirtschaftspapier verschärft hat. Der FDP-Politiker hatte seine liberalen Vorstellungen in dem Grundsatzpapier für Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) festgehalten: Die Steuerzahlungen soll durch einen geringeren Solidaritätszuschlag sinken. Er stellt sich gegen das Tariftreuegesetz und das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. In der Klimapolitik fordert er ein langsameres Vorgehen. So stellt er sich gegen Kernanliegen von SPD und Grünen, wodurch das Schreiben einen Keil in die Koalition treiben kann. Schon zuvor war in Berlin zu hören, dass Lindner überlegt, das Bündnis zu verlassen.
Lindners Kernaussage: Deutschland schwächt sich selbst. Ein Dickicht aus Regulierung und Bürokratie lähme die Innovationskraft und den Unternehmergeist. Zudem werde in Deutschland zu wenig gearbeitet. Das Ausscheiden der Babyboomer aus dem Erwerbsleben verschärfe die Schwierigkeiten. Der deutsche Sonderweg beim Klimaschutz (CO2-Neutralität schon 2045 statt 2050 wie sonst in der EU) mache einen Teil des produktiven Kapitalstocks vorzeitig wertlos und verteure Energie stark. „Ohne ambitionierte Maßnahmen, die das Potentialwachstum wieder erhöhen, dürfte das Primat solider Staatsfinanzen eine noch stärkere Absenkung des mittel- und langfristigen Ausgabenwachstums erfordern.“
Die SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil lehnten die Vorschläge ab. Zustimmung kam aus der Union und der Wirtschaft. Ifo-Präsident Clemens Fuest sieht darin kein Scheidungspapier, sondern Leitlinien für die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Ampel: „Das Papier von Lindner legt schlicht dar, was zu tun ist, wenn Deutschland wieder auf Wachstumskurs kommen und deutsche und europäische Schuldenregeln einhalten will.“ Ähnlich befürwortete Unternehmerin Marie-Christine Ostermann, Präsidentin des Verbands der Familienunternehmer, die Punkte. „Sollten SPD und Grüne das Maßnahmenpaket nicht umsetzen wollen, ist die Ampelkoalition gescheitert“, sagte sie.
Lindner verteidigte die Vorschläge am Sonntagabend im ZDF. Die Rahmenbedingungen hätten sich geändert. Nun müssten auch andere Vorschläge machen. Die Regierung werde dann schnell die Situation klären. „Deutschland braucht eine Richtungsentscheidung.“
Abschaffung der Berichts- und Nachweispflichten
In seinem Papier „Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ unterscheidet der Minister zwei Denkschulen. Die erste setze maßgeblich „auf staatliche Technologieselektion und die damit verbundene Lenkung des Ressourceneinsatzes vorrangig durch Verbote und Subventionen“. Die Wirtschaft solle sich an den Vorstellungen und Zukunftsideen der Politik ausrichten, schreibt Lindner dazu weiter. „Dieser Ansatz bestimmt zentral festgelegte ,Transformationen‘, welche die Gesellschaft durch staatliche Lenkung durchlaufen soll.“
Dies sei oft von dem Wunsch begleitet, bestehende Strukturen und Industrien zu konservieren, beispielsweise durch einen „Industriestrompreis“ oder Abwrackprämien zugunsten von E-Autos. Diese Industriepolitik konzentriere sich traditionell auf größere Unternehmen, meist auch mit den stärksten Interessenvertretungen (wie Intel oder Thyssenkrupp), vernachlässige hingegen den Mittelstand, das Handwerk und junge Unternehmen. Die zweite Denkschule setzt nach seinen Worten „auf das deutsche Erfolgsrezept, durch eine Verbesserung der allgemeinen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen die Attraktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Innovationskraft des Wirtschaftsstandorts umfassend und technologieoffen zu stärken“.
Lindner vertritt den zweiten Ansatz. Der sei kleinteiliger und ergebnisoffen; er widerspreche oft den Erwartungen nach „schnellen Lösungen“ oder einem „Pakt“. Lindner fordert in seinem Papier, neue Regulierungen sofort zu stoppen. In der EU sollte Deutschland auf die Abschaffung der Berichts- und Nachweispflichten aus dem „Green Deal“ dringen.
Klimapolitisch motivierte Dauersubventionen sollen verschwinden
Um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts zu verbessern, will Lindner den Solidaritätszuschlag schon 2025 um 2,5 Prozentpunkte auf 3 Prozent senken. „In einem zweiten Schritt könnte er im Jahr 2027 dann vollständig entfallen.“ Zudem sollte die Körperschaftsteuer schon nächstes Jahr um zwei Prozentpunkte reduziert werden. Die Belastung der Unternehmen soll mittelfristig „zumindest auf 25 Prozent“ sinken (von heute fast 30 Prozent).
Was der FDP-Politiker zum Klimaschutz sagt, steht im Widerspruch zu allem, was Wirtschaftsminister Habeck macht. Deutschlands Anteil an den CO2-Emissionen auf der Welt betrage nur 1,3 Prozent, konstatiert Lindner: „Es hilft dem Klimaschutz nicht, wenn Deutschland als vermeintlicher globaler Vorreiter möglichst schnell und folglich mit vermeidbaren wirtschaftlichen Schäden und politischen Verwerfungen versucht, seine Volkswirtschaft klimaneutral aufzustellen.“
Weiter heißt es im Text unterstrichen: „Relativ ambitionierte nationale Klimaziele führen im europäischen Emissionshandel jedoch nicht zu einer schnelleren Erreichung europäischer Ziele, sondern lediglich zu einer Reduktion der notwendigen Anstrengungen anderer Mitgliedstaaten.“ Daher sollten die nationalen Ziele durch die europäischen Ziele ersetzt werden. Zusätzliche sektorbezogene Regelungen seien nicht notwendig; sie verteuerten nur die Dekarbonisierung. Klimapolitisch motivierte Dauersubventionen will Lindner abschaffen und den Klima- und Transformationsfonds auflösen. Einen gesetzlich festgelegten Zeitpunkt für den Kohleausstieg hält er für verzichtbar.
Beratung im engsten Kreis der Bundesregierung
Die Förderung der erneuerbaren Energien (EEG) hat nach den Worten des FDP-Politikers untragbare finanzielle Dimensionen erreicht, „obwohl diese Förderung in einem europäischen Emissionshandelssystem nicht zu zusätzlichen Emissionseinsparungen führt“. Daher will er die staatlich garantierten Ausbaupfade sowie Vergütungen in den nächsten Jahren auf null senken. Auf europäischer Ebene sollte Deutschland „insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte“ durchsetzen. Mit Blick auf das Bürgergeld und andere Sozialleistungen konstatiert er: „Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status Quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen.“ Die gesetzlichen Vorgaben zur Arbeitszeit will der FDP-Vorsitzende flexibler ausgestaltet sehen, „um das Potenzial des Arbeitsmarkts zu heben“. Mit Blick auf den Haushalt 2025 verlangt Lindner, die Lücken ohne Steuererhöhungen zu schließen.
Ältere Semester dürfte das Lindner-Papier an den Parteifreund Otto Graf Lambsdorff erinnern: 1982 schrieb der damalige Wirtschaftsminister für Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) auf, was die sozialliberale Regierung tun müsste, um Investitionen anzuregen, mehr Arbeit zu schaffen und den Bundeshaushalt samt Sozialversicherungen zu konsolidieren. Das Lambsdorff-Papier führte zügig zum Ende von Schmidts Kanzlerschaft. Nach wenigen Tagen traten die FDP-Minister geschlossen zurück. Keine drei Wochen später wurde Helmut Kohl (CDU) mit den Stimmen der FDP nächster Bundeskanzler.
Anders als damals hat die FDP im Jahr 2024 nicht die Option, sich den nächsten Partner aussuchen zu können, um mit ihm weiter zu regieren und dabei eigene Vorstellungen verstärkt durchzusetzen. Dennoch kursiert in Berlin die Einschätzung, das Lindner-Papier habe das Zeug zum Scheidungsbrief.
Lindner schrieb nach Bekanntwerden seines Konzepts seinen Parteifreunden, das Papier sollte zunächst nur im engsten Kreis der Bundesregierung beraten werden. Es sei „durch eine Indiskretion anderswo“ öffentlich geworden. Auch das klingt nicht danach, dass sich die Regierungsspitzen noch zu einem Freundschaftsmahl treffen werden – so wie es Lindner mit dem Redeauftritt nun für Montagabend in Düsseldorf plant.