China/Taiwan: US-Studie sieht Kriegs- denn Bündnisfall z. Hd. die North Atlantic Treaty Organization
Ton und Inhalt der Washingtoner NATO-Erklärung auf dem Gipfel Anfang Juli waren von ungewohnter Schärfe, was China anbelangt. Die Volksrepublik China, so heißt es, sei mit ihren „Ambitionen und ihrer Zwangspolitik“ eine „Herausforderung unserer Interessen, Sicherheit und Werte“. Die NATO stuft das Land als „systemische Herausforderung für die Euro-Atlantische Sicherheit“ ein. Mehr noch, China sei „ein entscheidender Wegbereiter von Russlands Krieg gegen die Ukraine“ durch seine „großangelegte Unterstützung für Russlands Militär-Industrie“. Die NATO appelliert an Peking, materiellen und politischen Beistand „für Russlands Kriegsanstrengungen einzustellen“. Dies schließe auch die Lieferung von Dual-Use-Gütern ein. Gemeint sind Technologien, die sich sowohl militärisch als auch zivil nutzen lassen, wie Computerchips und Drohnen.
In Peking reagierte man prompt. Lin Jian, Sprecher des Außenministeriums, beschrieb die Gipfelerklärung als „Produkt der Mentalität des Kalten Krieges“. Alles sei „voller Vorurteile, Verleumdungen und Provokationen“. Dass man Russlands Verteidigungsindustrie zur Seite stehe, nannte Lin Jian „Desinformation“, schon gar nicht leiste China Militärhilfe. Man habe die Ukraine-Krise weder geschaffen noch sei man Teil von ihr. Bislang hat sich Peking im Ukraine-Konflikt stets für „neutral“ erklärt.
Zu vermuten ist, dahinter steht nicht zuletzt die Befürchtung, die NATO bediene sich des Ukraine-Kriegs, um China in der Taiwan-Frage unter Druck zu setzen. Zwar wird das Thema in der Washingtoner Gipfelerklärung nicht erwähnt, doch fehlt es nicht an Beistandsbekundungen für Taipeh. Unter anderem finden die sich in einem kaum beachteten Strategiepapier des NATO-Defense-College vom Februar, überschrieben mit: NATO and a Taiwan Contingency (Die NATO und ein Taiwan-Notfall).
Das 1951 nach einer Idee von General Dwight D. Eisenhower geschaffene Gremium dient als Denkfabrik und Kaderschmiede für Diplomaten aus NATO-Staaten. In diesem College wird vorausschauend gedacht. Es beschäftigen Konzepte, die später in die Praxis der Allianz einfließen. US-Autoren und Analytiker haben einen hohen Stellenwert. Zu nennen wäre James Lee, Verfasser besagter Taiwan-Studie und Mitarbeiter des Instituts für europäische und amerikanische Studien an der Academia Sinica in Taipeh, die von einem US-Bürger geleitet wird.
Blockaden durchbrechen
Lee untersucht die rechtlichen Voraussetzungen, sollten „die Vereinigten Staaten ihre NATO-Verbündeten um Unterstützung bitten […] in einer globalen Kampagne gegen Peking“. Zwar greife der Artikel 5 des NATO-Vertrages über eine Beistandspflicht nicht bei einem Angriff Chinas auf Taiwan. Doch könne sich das ändern, falls der Konflikt räumlich eskaliere, etwa durch chinesische Militärschläge gegen US-Basen auf Hawaii und Guam. Ein Ernstfall, der europäische NATO-Staaten unter Handlungszwang setze.
Selbst ohne eine solche Eskalation, so der Autor, hätten die USA im Fall einer chinesischen See- und Luftblockade gegen Taiwan die Option, Hilfe von NATO-Partnern anzufordern. NATO-Mitglieder könnten mit Kriegsschiffen Seepatrouillen fahren oder die USA im Pazifik mit Versorgungsflügen unterstützten. Damit hätten sie die Möglichkeit, „die Marine der USA und Taiwans zu unterstützen, um die Blockade zu brechen“. Peking könnte dann die Schiffe dieser NATO-Länder angreifen. Lee schreibt: „Auch wenn sich die NATO als Allianz nicht im Krieg mit China befindet – NATO-Mitglieder könnten dies sehr wohl sein.“
Die 7. US-Flotte im Pazifik könnte, so das NATO-Defense-College-Paper, „die Blockade brechen, bevor Taiwan die Munition ausgeht“. Das Spektrum des Möglichen für die NATO reiche „von Sanktionen gegen China bis zu gemeinsamen Operationen im Indo-Pazifik“, einschließlich „des Transfers von Waffensystemen und Militärtechnologien an Taiwan“. Ausgangsbasis könne in diesem Fall Artikel 4 des NATO-Vertrages sein, der „Konsultationen“ vorsieht, falls ein Bündnismitglied der Meinung ist, seine Sicherheit sei bedroht. Damit hat erstmals eine NATO-Einrichtung öffentlich die Teilnahme von Allianz-Mitgliedern an einem militärischen Konflikt mit der Volksrepublik China als Option erwogen.
Dabei wird mit jenem NATO-Papier wie auch in vielen Medienberichten implizit der Eindruck erweckt, Taiwan sei ein souveräner, international anerkannter Staat. Tatsächlich erkennen die Vereinten Nationen den Anspruch der Volksrepublik auf ganz China, einschließlich Taiwan, mehrheitlich an. Weil das so ist, unterhält kein EU-Mitgliedsstaat mehr diplomatische Beziehungen zu Taiwan. Die Europäische Union hat auf der Insel lediglich ein „Wirtschafts- und Handelsbüro“, das keinen Botschaftsstatus hat.
Zu den wenigen Ländern, die Taiwan anerkennen, gehören außer Haiti, Guatemala, Paraguay und Honduras einige Kleinstaaten wie die Marschallinseln und die pazifischen Inselrepubliken Tuvalu (10.000 Einwohner), Nauru (11.700) und Palau (17.600). Es handelt sich um Gemeinwesen, die stark unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten stehen und faktisch über eine nur begrenzte Souveränität verfügen.